Sozialpsychiatrie in der DDR

Psychoknast und Schizerie. Vom klinischen Irrsinn in der DDR

Hörfunk-Dossier (Deutschlandfunk 15. 1. 2010) von Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz

Die Geschichte der Psychiatrie in der DDR ist noch immer ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Die Autorinnen Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz haben mit Zeitzeugen gesprochen, die als Betroffene, engagierte Bürger, Pfleger oder Ärzte die Psychiatrie in der DDR erlebt haben. Erzählt wird von einem entsetzlichen Erbe der Nazizeit, aber auch vom reformerischen Aufbruch in Rodewisch. Von gewaltigen überbelegten Krankenhäusern, aber auch von Leuchttürmen der Hoffnung wie der psychiatrischen Uniklinik in Leipzig. Von totalitären Strukturen, wie sie in Waldheim herrschten, aber auch von Selbstbestimmtheit und Witz, die Patienten halfen, mit ihrer Krankheit umzugehen - und von der sozialpsychiatrischen Aufbruchsstimmung ab 1989/90! Entstanden ist ein Hörfunk-Dossier, das (entgegen allen Klischees) ein vielstimmiges Hörbild der DDR-Psychiatrie zeichnet.

Mit Zustimmung des Senders und der Mitwirkenden kann die SÄCHSISCHE GESELLSCHAFT FÜR SOZIALE PSYCHIATRIE e.V. eine Aufzeichnung dieses Hörfunk-Dossiers an InteressentInnen kostenlos als CD abgeben.

Schreiben Sie dazu eine E-Mail mit Ihrer gewünschten Versandadresse an: .

Dr. K. Weise: Psychiatriereform in Sachsen 1960 bis 1990

Ich möchte die Entwicklung der Psychiatrie darstellen, wie ich sie an der Universität, in der Stadt Leipzig und darüber hinaus in der DDR erlebt und mitgestaltet habe. Es ist eine subjektive Perspektive, ein Zeitzeugenbericht mit all seinen Nachteilen und Vorzügen. Er beansprucht keine Gültigkeit für die DDR. Die Situation der Psychiatrie war in verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich. Selbst in Sachsen gab es auf der einen Seite progressive humanistische Entwicklungen, die den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchten, u.a. in Dresden, Chemnitz, Leipzig und Plauen. Auf der anderen Seite bestanden katastrophale menschenunwürdige, auch nach DDR-Recht kriminelle Zustände mit Verletzung von elementaren Rechten der Betroffenen und Missachtung selbstverständlicher Behandlungsgrundsätze wie in Waldheim. Sie wurden auch für mich erst in der Wendezeit, nach der Auflösung der Herrschaftsstrukturen der DDR, in ihrem ganzen Umfang zugängig. Der Informationsaustausch zwischen verschiedenen Einrichtungen und Regionen war schon auf der fachlichen Ebene begrenzt, noch mehr die Möglichkeiten einer öffentlichen Auseinandersetzung über Probleme der psychiatrischen Versorgung.

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Psychiatrie war in besonderem Maß von den destruktiven Einflüssen des nationalsozialistischen Systems mit Zerstörung der institutionellen Basis durch Verwahrlosung und Fremdnutzung als Heim, Lazarett, Mittelentzug o. ä. betroffen.

Noch schlimmer war der moralische Tiefstand durch die aktive Beteiligung an der theoretischen Vorbereitung und praktischen Durchführung der Euthanasiemorde, bei der alle Grundprinzipien ärztlicher Ethik, dem Patienten keinen Schaden zu zufügen und der unbedingten Erhaltung des Lebens, über Bord geworfen wurden. Die Vorbereitung dieser Verbrechen reicht weit in die Geschichte der Psychiatrie. Meilensteine waren das medizinische Krankheitsverständnis, das Menschenbild von E. Kraepelin, das die Betroffenen zu Objekten macht und ihnen damit Individualität und Würde nimmt. Die Bedeutung dieses Mechanismus für die Euthanasie als erste Stufe der Vernichtung haben A. Mitscherlich und V. v. Weizsäcker dargestellt. Noch konkreter in diese Richtung weist die Klassifikation psychischer Erkrankungen als lebensunwertes Leben ( K. Binding und A. Hoche), die Forderung nach der Freigabe seiner Vernichtung.

Daraus ergaben sich für die nach der Befreiung vom Faschismus dringend anstehende Psychiatriereform zwei Linien:

  1. Die Schaffung einer Alternative zum medizinischen Krankheitsverständnis, die dem psychisch Kranken Menschenwürde und Selbstbestimmung gibt, ein anthropologisches Krankheitsverständnis, das den Patienten als Person und Subjekt mit seinen Erfahrungen und im Kontext von Biographie und Lebenssituation in den Mittelpunkt stellt.
  2. Die Wiederherstellung der instituionellen Basis, der Funktionsfähigkeit der psychiatrischen Krankenhäuser. Dabei konnte es nicht nur um Wiederherstellung gehen, da zahlreiche Forschungen im westlichen Ausland die pathogene Bedeutung der traditionellen custodialen Strukturen gezeigt hatten. Notwendig waren neue humane Versorgungsformen. Erste Ansätze waren in der DDR die Rodewischer Seiten von 1963 und in der BRD die Psychiatrie-Enquête von 1975..

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Psychiatriereform als Paradigmenwechsel zu einem anthropologischen Krankheitsverständnis.

Mir schien damals, in den 50er Jahren, der erste Aspekt der Reform für eine Universitätsklinik der angemessenere. Von den 50er bis zu den 90er Jahren stellte er den wesentlichen Inhalt der  Forschungsarbeit der psychiatrischen Universitätsklinik dar. Anknüpfungspunkte waren die in der DDR kaum bekannten und abgelehnten Erkenntnisse der phänomenologischen Psychiatrie der BRD und der Schweiz, die anthropologische Psychiatrie von J. Zutt und C. Kulenkampff und die Daseinsanalyse von L. Binswanger, später auch die Psychoanalyse. Diese Entwicklungen wurden als zweite psychiatrische Revolution gewürdigt, an die auch die Psychiariereform der BRD anknüpfte.

Diese Perspektive erforderte eine andere Sicht von Psychopathologie und medizinischer Psychologie. Psychopathologie und medizinische Psychologie wurden damals, wie die Psychiatrie, verstanden als klinische, naturwissenschaftliche Disziplinen, für die in erster Linie der Arzt kompetent ist, deren Gegenstand Symptome und Diagnosen psychischer Störungen und ihre biologischen Zusammenhänge, somatische Krankheiten, sind. Sie wurden gesehen als heterologische Wissenschaften im Sinne von A. Kronfeld,  die sich gründen auf ihnen fremde wissenschaftstheoretische Grundlagen, Gesetzmässigkeiten und Methoden, vor allem auf Krankheitslehre und Klinik, auf Hirnforschung, Neurochemie und Neurophysiologie. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Statt dessen ging es mir um eine Ergänzung dieser medizinischen Perspektive durch die für den Menschen wesentliche Dimension, um medizinische Psychologie und  Psychopathologie als autologische Wissenschaften mit je eigenen spezifischen, psychosozialen Zusammenhängen, Regeln und Gesetzmässigkeiten, als Subdisziplinen der Psychologie. Das bedeutete einen Paradigmenwechsel, psychische Störungen zu verstehen als besondere Formen sinnbezogener seelischer, subjektiver Erfahrungen im Kontext von Lebensgeschichte und Lebenssituation, sie ernst zu nehmen, als Botschaften des Patienten, als Ausdruck verborgener Sehnsüchte, unerfüllter Wünsche, von Ängsten und Hoffnungen. Psychosen sind unter diesem Aspekt krisenhafte Abwandlungen des menschlichen Daseins. Psychologie war damals für mich gleichbedeutend mit subjektorientiert, ein Irrtum, der mir erst allmählich im Rahmen der Zusammenarbeit mit klinischen Psychologen bewusst wurde. Psychologie ist zwar nicht naturwissenschaftlich im Sinne des Biologischen orientiert, wie Medizin, aber naturwissenschaftlich im Methodischen, d. h. objektivierend, quantifizierend. Das bedeutet auch Ausblendung des Subjekts, die Verfremdung der Erfahrungen des Patienten, seine Verobjektivierung, eine Psychologie ohne Seele. Sie bleibt unter der für den Patienten und damit auch für uns wesentlichen subjektiven Dimension. Wissenschaftlich fortgeschrittenste Alternative ist die kritische Psychologie von K. Holzkamp, die aber jenseits unserer Kompetenz lag. Wir suchten nach einem Ausweg aus dieser schwierigen Situation und fanden ihn in der   klientzentrierten Gesprächspsychotherapie von C. Rogers als theoretischem Konzept und als Basistherapie. Ähnlich wie die phänomenologischen Richtungen und die kritische Psychologie stellt sie die subjektiven Erfahrungen, das innere Bezugssystem des Betroffenen, die Welt in seiner Perspektive in den Mittelpunkt, Psychologie vom Subjektstandpunkt.

Diese theoretische Neuorientierung war für mich damals die erste Stufe der sozialpsychiatrischen Psychiatriereform, eigentlich die primäre und grundlegende. Damit folgten wir dem Vorbild der westdeutschen Psychiatriereform.

Mit diesen Vorstellungen  stiess ich zu meiner Überraschung auf heftigen Widerstand  des Klinikschefs, Prof. D. Müller-Hegemann, der ja eigentlich Psychoanalytiker war und von dem ich Verständnis und Unterstützung erwartet hatte. Mir wurde eine Auseinandersetzung über die Theorie der Psychiatrie, ihr Krankheitsverständnis und  die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Umgang mit Patienten aufgezwungen, die mich mein ganzes Leben begleitet hat und die bis heute aktuell ist. Ein anthropologisches Krankheitsverständnis konnte sich bis heute auch in der BRD nicht gegen das traditionelle, biologische  Krankheitverständnis von E. Kraepelin durchsetzen, das vor allem mit den modernen Diagnosesystemen ICD 10, den DSM Varianten, den neurochemischen Forschungsergebnissen und der Psychopharmakotherapie  seine dominierende Rolle gefestigt hat.

Die konträre Position von D. Müller-Hegemann hatte  verschiedene Ursachen. Die Hauptrolle spielte in den 60er Jahren seine Identifikation mit dem im Rahmen des Stalinismus ideologisch aufgeheizten Pawlow-Boom aus der Sowjetunion, der verbundenen war mit einer reduktionistischen pathopysiologischen Sicht psychischer und psychopathologischer Phänomene, die auf ihre physiologischen Grundlagen zurückgeführt wurden. Die Pawlowsche Reflexologie wurde, über ihre Bedeutung für die Physiologie hinaus, als eine revolutionäre Neuordnung von Psychologie und Psychopathologie überbewertet.

Eine Extremvariante des nosologischen Krankheitsverständnisses wurde in der DDR von der Berliner Psychiatrie unter Prof. K. Leonhardt vertreten, der als langjähriger Vorsitzender der Psychiatriegesellschaft eine bestimmende Rolle spielte.. Ich denke, dass sich D. Müller-Hegemann, der ja als Psychotherapeut, als Analytiker in der Psychiatrie eher eine Randposition hatte, dem psychiatrischem Establishment anpassen wollte.

Beide theoretischen Richtungen, die klassische deutsche Psychiatrie und der Pawlowismus waren zwar ganz unterschiedliche Konzepte, hatten aber etwas gemeinsam. Sie reduzierten Psychiatrie, Psychopathologie und medizinische Psychologie auf reine Naturwissenschaften, auf Wissenschaften von den somatisch- biologischen Aspekten der Hirnfunktionen, der höheren Nerventätigkeit und wehrten subjekt- und sozial orientierte Betrachtungsweisen ab.  Beide ordneten sich in dem alten Streit von Psychikern und Somatikern in der Psychiatrie in das Lager der "Somatiker" ein. Die für uns grundlegenden Konzepte, Psychoanalyse und  verwandte Richtungen wie Daseinanalyse, anthropologische Psychiatrie, waren  in der deutschen Psychiatrie lange Zeit verfemt. Zur negativen Wertung auf grund der einseitig somatischen Orientierung der Psychiatrie kam in der DDR die ideologisch motivierte Ablehnung als "westliche Theorien", vor allem auch, weil sie sich auf Existenzialismus, Phänomenologie bzw. die Freudsche Psychoanalyse stützten, die in den sozialistischen Ländern als Gegensatz zum Marxismus radikal abgelehnt wurden. In die gleiche Richtung, der radikalen Negierung einer psychosozialen, subjektorientierten Perspektive, wirkte die sowjetische Psychiatrie, die in der DDR von der Moskauer Schule vertreten wurde und damals grossen politischen Einfluss hatte. Sie gründete sich auch auf E. Kraepelins Auffassung über Psychosen als reine "Somatosen", d.h. als körperlich begründbare Krankheiten,  die den individuellen Patienten dem Schema einer Diagnose unterordnet. Die Annahme einer Psycho- und Soziogenese von Psychosen, die Forderung nach einer sozialen Psychiatrie und nach Psychotherapie für endogene Psychosen, besonders für Schizophrenie, galten als Häresie, als Widerspruch zur materialistischen Philosophie, als Idealismus. Diese Ablehnung der Sozialpsychiatrie in der Psychiatrie  der DDR  war so stark, dass sie von manchen Psychiatern als Verbot erlebt wurde (F. R. Groß). Obwohl die genannten ideologischen Bedingungen in Westdeutschland keine Rolle spielten,  war die Polarisierung zwischen medizinisch-biologischer und psychosozialer Psychiatrie und die Dominanz der erstgenannten ähnlich ausgeprägt.

Unterstützt wurde die biologisch orientierte Psychiatrie und der Pawlowismus in der DDR und in der SU durch einen vulgarisierten philosophischen Materialismus, der  das Psychische auf seine materiellen Grundlagen, das Subjektive auf ein fiktives, unwesentliches Epiphänomen neuronaler Prozesse reduziert.

Der Pawlowismus etablierte sich auch in der Psychologie, was zu einer heftigen Kontroverse in der DDR-Psychologie führte, auch dort mit dem Ergebnis der Ablehnung einer solchen reduktionistischen Perspektive, die unsere Position stärkte.

Meine Auffassungen wurden als idealistisch, im Widerspruch zu einer (natur-) wissenschaftlichen Psychiatrie stehend oder gar existentialistisch bewertet, damals ein schwerer Vorwurf. Eine gleichlautende Kritik gab es auch von Prof. E. J. Sternberg, einem Vertreter der Moskauer Psychiatrie. In den 60er Jahren stellte die heftige wissenschaftliche Debatte zwischen Müller-Hegemann und mir zeitweise meine Existenz an der Universität in Frage. Ich erhielt jedoch Unterstützung von Achim Thom, dem späteren Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Medizin der Universität Leipzig, damals Assistent im marxistisch-leninistischen Grundstudium. Wir begründeten in gemeinsamen Publikationen,  dass psychopathologische Phänomene nicht nur Krankheitssymptome, Ausdruck neuronaler Störungen sind, sondern vor allem und primär, in Analogie zu psychischen Phänomenen, seelische Vorgänge und dass eine psychosoziale Perspektive, die die Subjektivität des Menschen, auch des psychisch Kranken, mit  seinem lebensgeschichtlichen Kontext ernst nimmt, sich aus dem Marxismus, aus der Verbindung von dialektischem und historischem Materialismus ergibt. Daraus wurde die Forderung abgeleitet, sowohl den biologischen als auch den psychischen und sozialen Aspekt in ihrer Eigenständigkeit und mit ihren Wechselwirkungen gleichberechtigt zu berücksichtigen Der Bezug auf den Marxismus war keine "ideologische Pflichtübung", wie das K. P. Kisker in der Rezension einer unserer Arbeiten vermutete, sondern echte Überzeugung. Ich bin heute noch der Meinung, dass Marxismus sicher nicht die Einzige, wohl aber eine mögliche philosophische Basis Psychiatrischer Wissenschaft ist.

Aus gemeinsamer Arbeit an diesem Thema entstand zu Prof. Thom nicht nur eine enge, dauerhafte Freundschaft, sondern eine lebenslange Kooperation, die fast alle Bereiche psychiatrischer Theorie und Praxis umfasste: Geschichte der Psychiatrie, besonders die Zeit des Faschismus, ethische Aspekte, soziale Stellung und Stigmatisierung der psychisch Kranken und Behinderten, Entwicklung der Versorgungspraxis der Psychiatrie u. a. Unterstützt wurden wir in dieser Debatte auch von anderen Vertretern der marxistischen Philosophie.

Wesentliche Grundlage für unsere Auffassung waren andere Richtungen der sowjetischen Psychologie, insbesondere S. L. Rubinstein, sein Tätigkeitskonzept, das Verständnis menschlicher Entwicklung als Resultat der aktiven, bewussten Tätigkeit des Subjekts, der Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Bedingungen. Das Psychische mit seinem persönlichen Sinn und Inhalt wird gesehen als subjektive, durch die inneren Bedingungen gebrochene Widerspiegelung der sozialen Wirklichkeit.   Mit der Übertragung dieses Konzepts auf die Psychopathologie wurde sowohl die Eigenständigkeit als auch die soziale Determiniertheit psychopathologischer Prozesse erfasst, als theoretische Basis der Sozialpsychiatrie. Diese soziale Orientierung wurde damals in der Medizin der DDR unterstützt durch den generellen Trend einer Aufwertung des Fachgebiets Sozialmedizin mit dem Ziel, die Ausblendung der sozialen Dimension von Krankheit und Therapie in der traditionellen Medizin zu überwinden. Fruchtbar für unsere Arbeit waren die Beziehungen zur Psychologie, in der auch die Auseinandersetzungen um den Pawlowkult und eine reduktionistische Sicht der Psychologie geführt wurden. Wir hatten enge Kontakte zu den psychologischen Instituten der DDR, wie sie heute in der Psychiatrie kaum mehr bestehen..

Auch in der Psychologie wurde die Eigengesetzlichkeit der psychologischen Prozesse in ihrer  primären sozialen Determiniertheit betont. Die Jenaer sozialpsychologische Schule von K. Hiebsch stellte die kollektive Natur des Menschen in den Vordergrund. Sie war für uns wichtig zur Begründung gruppentherapeutischer Ansätze, die in der DDR auf Grund des sozialistischen Menschenbilds eine grosse Rolle spielten. Ebenso profitierten wir für unser Krankheits- und Psychopathologieverständnis von der Leipziger persönlichkeitspsychologischen Richtung H. Schröders, der vor allem in den 70er und 80er Jahren die Rolle des Subjekts und der Individualität betonte.

In der Auseinandersetzung  mit Müller-Hegemann erhielten wir Unterstützung von Prof. K. Winter, dem führenden Vertreter der Sozialmedizin in der DDR, Direktor der Akademie für ärztliche Fortbildung. Er ermöglichte  mir auch, den Disput mit Müller-Hegemann öffentlich in seiner Zeitschrift "Ärztliche Fortbildung" zu führen, was die psychiatrische Fachzeitschrift verweigerte.

Zu dem theoretischen Streit kamen andere, damit in Verbindung stehende Konflikte an der Klinik. Prof. Müller-Hegemann wollte einen Wechsel der Oberärzte der psychiatrischen,  psychotherapeutischen, neurologischen und der ambulanten Abteilung aller zwei Jahre. Vor allem die Oberärztin der Psychotherapie Christa Kohler und ich, als Oberarzt der psychiatrischen Abteilung, setzten uns zur Wehr, weil wir der Meinung waren, dass der Aufbau eines modernen Profils der Fachgebiete Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie auf den genannten Abteilungen langfristige kontinuierliche Qualifizierung und wissenschaftliche Arbeit in diesen Disziplinen erfordert. Das wäre durch einen Wechsel aller 2 Jahre unmöglich gemacht. Hinter unserem Anliegen stand die Orientierung auf Eigenständigkeit und Verselbständigung der Fachgebiete Psychiatrie, Neurologie, Psychotherapie und Kinderneuropsychiatrie, wie sie sich damals im internationalen Trend abzeichnete und heute überall realisiert ist. In der DDR lehnten die  führenden Vertreter des Fachgebiets und die Medizinisch-wissenschaftliche Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie  eine Trennung und Verselbständigung dieser  Disziplinen bis zur Wende konsequent ab. Dahinter stand die Sorge,  dass die Psychiatrie damit ihre somatische und naturwissenschaftliche Basis zugunsten einer als spekulativ verkannten anthropologischen  Perspektive und zugunsten von Psychotherapie und Sozialpsychiatrie verlieren  könnte. Die Neurologie mit einem in ihrem Gegenstand begründeten rein somatischen Krankheitsverständnis diente der Psychiatrie als Vorbild.. Diese Bemühungen um Anerkennung als Naturwissenschaft, als medizinische Disziplin, gingen auf Kosten der spezifischen Anforderungen an eine Theorie von Psychiatrie, Psychotherapie und medizinischer Psychologie, die sich aus den Besonderheiten ihres Gegenstands, dem Menschen mit seiner biologischen und psychosozialen Natur ergibt. Auseinandersetzungen zwischen mir und Müller- Hegemann gab es auch über die Gestaltung der Behandlung auf der psychiatrischen Abteilung. Ich wollte, wie das von der internationalen Psychiatriereform gefordert wurde und wie ich das in Rodewisch gelernt hatte, Isolierzellen und Gitter beseitigen, die Stationen öffnen, was Müller-Hegemann unter Verweis auf die in der DDR vorherrschende Praxis ablehnte. Im Verlauf dieser Konflikte, die die Klinik labilisierten, verliess Müller- Hegemann 1964 Leipzig. Einige Zeit später ging er in die Bundesrepublik.

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Persönlichkeitszentrierte Psychotherapie als Hauptbehandlungsstrategie anstelle von medikamentöser Therapie.

Aus dem theoretischen Konzept, dem anthropologischen Krankheitverständnis, ergab sich grundlegender Veränderungsbedarf der diagnostischen und therapeutischen Praxis. Erste und wichtigste Aufgabe war die Integration von Psychotherapie in das Behandlungsprogramm, nicht nur als Methode, sondern  als übergreifende Perspektive der Entstehung und Behandlung psychischer Störungen, auch der Psychosen nach dem Motto „ der Psychiater ist substantiell Psychotherapeut oder er ist keiner“ (K. P. Kisker) , eine Entwicklung, die auch von den Patienten und ihren Organisationen vertreten wird. Für mich war die Hinwendung zum und die Respektierung des Patienten als Subjekt und als Konsequenz daraus die Entwicklung persönlichkeitsorientierter Psychotherapie in der Psychiatrie das primäre, wesentlichere und integrative Anliegen  der sozialpsychiatrischen Theorie und Praxis. Sozialpsychiatrie ohne Psychotherapie bleibt immer ein Fragment, weil der Betroffene als Subjekt ausgeblendet wird.  Deshalb habe ich mich auch mit der Einordnung als Vertreter der Sozialpsychiatrie nie so recht identifizieren können.

Die Integration von Psychotherapie in die Psychiatrie war ein Problem, nicht nur wegen der erwähnten theoretischen Bedingungen, sondern auch wegen der strikten Trennung von Psychiatrie und Psychotherapie als Fachdisziplinen mit  eigenen institutionellen Strukturen, Stationen und Abteilungen und streng getrennten  medizinisch wissenschaftlichen Gesellschaften. Psychotherapie, vor allem die Freudsche Psychoanalyse wurde von den meisten Psychiatern damals noch in die Nähe von Scharlatanerie eingeordnet. Psychiatrie verstand sich als rein somatisch orientierte Disziplin, zuständig für Psychosen als körperlich begründbare Krankheiten.  Ob Neurosen und ähnliche Störungen zur Psychiatrie gehören und ob sie überhaupt als Krankheiten zu bewerten seien, war lange Zeit strittig, ernst genommen wurden sie nicht. Psychiatrische Abteilungen boten keine Ausbildungsmöglichkeiten für persönlichkeitsorientierte Psychotherapieformen, diese waren das Monopol der Psychotherapeutischen Abteilungen, sie beschränkten die Indikation von Psychotherapie auf Neurosen und Persönlichkeitsstörungen. Damit waren die Kompetenz- und Machtbereiche abgesteckt und wurden streng bewahrt, Grenzüberschreitungen sanktioniert, interdisziplinäre Kooperation gab es kaum.

Unser Krankheitsverständnis, Psychosen als seelische Krisen zu sehen, erforderte eine konflikt- und personzentrierte Psychotherapie, weil nur damit die Person des Betroffenen mit ihrer Geschichte und ihren realen Beziehungen zur Verarbeitung und Bewältigung der Psychose einbezogen werden kann. Ziel war die Kommunikation über persönlichen Inhalt und Sinn der psychotischen Erfahrungen, der Halluzinationen, des Wahns etc., um zu einem gemeinsamen Bezugssystem  für die Welt des Betroffenen und unsere Welt zukommen. Wir knüpften enge Beziehungen zu den wichtigsten, anerkannten psychotherapeutischen Einrichtungen der DDR, und delegierten Mitarbeiter zur Ausbildung dorthin. Im Haus der Gesundheit in Berlin hatte Dr. Höck die am meisten verbreitete Psychotherapieschule der DDR aufgebaut , die "Intendiert-dynamische Psychotherapie", eine Variante der Freudschen bzw.  Schultz-Henckeschen Psychoanalyse. Zum anderen arbeitete in Berlin am Psychologischen Institut der Humboldt-Universität die Forschungsgruppe von Prof. Helm, der die Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers übernommen und in der DDR entsprechende Ausbildungs- und Forschungsprogramme etabliert hatte. Die Intendiert-dynamische Psychotherapie von K. Höck war für uns wichtig, weil sie den Akzent auf Selbsterfahrung und Gruppentherapie legte, sie erschien mir aber, wie die Psychoanalyse generell, für unsere Aufgaben in der Psychiatrie nicht angemessen. Grund war  nicht die Tabuisierung von Freud und der Psychoanalyse, die es in der DDR und mehr oder weniger in den anderen sozialistischen Ländern gab, wenn auch nicht so radikal wie heute oft behauptet. Bestimmend für meine Haltung zur Psychoanalyse war die Kritik von K. Jaspers, seine Charakteristik analytischen Vorgehens als "entlarvende Psychologie". Besonders für Patienten der Psychiatrie, nicht nur mit der Diagnose Schizophrenie, mit ihrer ausgeprägten Verletzlichkeit, erschien mir eine solche entlarvende Behandlung nicht geeignet. Hinzu kam, dass das interpretative Vorgehen in der Intendiert-dynamischen Therapie besonders invasiv, verletzend war, selbst für neurotische Störungen nicht unproblematisch. Wünschenswert war mir für unsere Belange der von K. Jaspers genannte Gegensatz zur entlarvenden, eine "erhellende", verstehende Psychologie auf der Basis der Phänomenologie.

Wir orientierten uns auf die schon erwähnte personzentrierte Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers, die mich von vornherein überzeugte durch  ihren humanistischen Inhalt und ihre Nähe zur Phänomenologie, als eine Form der erhellenden Psychologie. Mir erschien die Gesprächspsychotherapie, analog zur kritischen Psychologie (Holzkamp), als eine Psychotherapie vom Subjektstandpunkt, bei der die Struktur des Psychischen, die subjektiven Erfahrungen, die innere Erlebniswelt des Betroffenen voll erhalten bleiben. Sie befreit, im Gegensatz  zu  allen anderen psychotherapeutischen Richtungen, auch der Psychoanalyse, den Patienten aus der Objektrolle und orientiert mit dem Rogersschen Konzept der Selbstaktualisierung auf Potenzen und Ressourcen des Betroffenen im Rahmen einer teilnehmenden, intersubjektiven Beziehung, in einem intersubjektiven Verständigungsrahmen. Sie überwindet so den Charakter einer Herrschafts- und Kontrollwissenschaft und wird dem emanzipatorischen Anspruch der Sozialpsychiatrie gerecht. Sie erschien mir besonders geeignet für unsere Aufgaben im Rahmen der psychiatrischen Regelversorgung, d, h. für alle Formen psychischer Störungen, auch für Menschen mit der Diagnose Schizophrenie, für Sucht- und psychische Alterserkrankungen. Sie hatte, m. E. als einziges psychotherapeutisches Konzept, konsequent die kopernikanische Wende vollzogen, den Paradigmenwechsel von einer therapeutzentrierten, technisch-methodischen, vergegenständlichenden Perspektive zu einer person- oder subjektzentrierten Sicht. Gesprächstherapie fragt danach, was der Patient offenbaren will. Die Dynamik geht vom Patienten zum Therapeuten, nicht, wie üblich vom Therapeuten zum Patienten. In den Mittelpunkt rückt die Einzigartigkeit des menschlichen Schicksals, die Selbst- und Weltsicht des Menschen. Gesprächspsychotherapie orientiert sich nicht an überindividuellen Symptomen oder Störungen und deren Beseitigung durch regel- und prinzipiengeleitete technisch methodische Interventionen. Es geht vielmehr um den Aufbau einer verständnisorientierten menschlichen Beziehung, die die Persönlichkeitsentwicklung und das Bewältigungspotential des Betroffenen fördert. Diese Beziehung ist gekennzeichnet durch die Rogersschen Therapievariablen Empathie, Akzeptanz und Echtheit. Das wird oft missverstanden als allgemeine, von jedem "guten" Therapeuten realisierte Haltung. (siehe die Debatte zur "neuen Einfachheit" in der DGSP). Tatsächlich ist es eine besondere, m. E. die  schwierigste Form der Spezialisierung des therapeutischen Vorgehens, ausgerichtet  auf den individuellen Menschen. Es geht primär nicht um Erkenntnisgewinnung des Therapeuten, sondern um Anerkennung (P. F. Schmid), um Respektierung und Wertschätzung des Betroffenen auch in seinem Anderssein, die es ihm erleichtert, sich selbst mit seinen Störungen anzunehmen, den Glauben an sich selbst wieder zu finden als Voraussetzung für kritische Reflexion und positive Veränderung, für die Wiedererlangung der Fähigkeit, sein Leben zu kontrollieren. Die Hoffnung auf Erfolg und Veränderung gründet sich erst in zweiter Linie auf therapeutische Techniken, sondern vor allem auf den Patienten selbst, seine Selbstaktualisierungstendenz (C. Rogers), auf Selbstbestimmung und  persönliche Ressourcen. Der Patient wird als Experte seiner seelischen Probleme, auch seiner Psychose ernst genommen, der Therapeut ist Facilitator der Entwicklung des Betroffenen. Er fördert sie durch  einfühlsame, warmherzige Zuwendung. Gesprächstherapie strebt, anstelle der im wissenschaftlichen, auch im medizinischen Betrieb üblichen Ich-Es-Beziehung eine Ich-Du-Beziehung im Sinne von M. Buber an.

Gesprächstherapie, als methodisch hoch differenziertes Verfahren, wurde in Berlin am Psychologischen Institut der Humboldt-Universität als spezielle individuelle therapeutische Methode für ausgewählte Gruppen von Neurosen angewandt. Unser Versorgungsprofil erforderte die Entwicklung psychotherapeutischer Behandlungsformen, vor allem von Gruppentherapien für akute und chronische Psychosen, Suchten, psychiatrische Alterserkrankungen u. a. Ausserdem brauchten wir ein psychotherapeutisches Basiskonzept für die Arbeit mit psychisch Kranken, in das alle Berufsgruppen der Psychiatrie einbezogen werden konnten mit dem Ziel der Veränderung des therapeutischen Milieus in Richtung auf eine therapeutische Gemeinschaft. Besonders gefördert wurde unsere Entwicklung in den 70er Jahren durch Dr. Frido Mann,  Psychologe,   Gesprächspsychotherapietrainer aus der BRD, der längere Zeit an der Klinik arbeitete. Wir waren auf ihn aufmerksam geworden, weil er eine Variante der Rogersschen Gesprächstherapie publiziert hatte, die besonders für unsere Aufgaben geeignet schien. Dieses Psychotherapiekonzept war auch Gegenstand seiner Habilitation an der Karl Marx-Universität. Es erwies sich als flexibel für die verschiedensten Störungen, orientiert nicht auf Diagnosen, sondern auf den individuellen Menschen. Es bewährte sich sowohl als spezielle psychotherapeutische Methode in der Einzel- und Gruppentherapie und als Basisqualifizierung für den alltäglichen Umgang mit den Patienten. Es fand  Interesse  in vielen anderen Kliniken und Ambulanzen der DDR, deren Mitarbeiter von uns trainiert wurden. Das hat sich bis in die Gegenwart fortgesetzt.

Damit vollzog sich die theoretisch geforderte Veränderung des Krankheitsverständnisses und des Menschenbilds. Im alltäglichen Handeln stand nicht mehr die Krankheit mit Diagnose und klinischen Symptomen im Vordergrund, sondern die Person des Patienten mit ihren Problemen. Wir haben damals lange und heftig diskutiert, ob es nicht notwendig sei, Diagnosen wegen ihrer entindividualisierenden und stigmatisierenden Wirkung ganz abzuschaffen, eine Konsequenz, die auch C. Rogers zog. Wir sind soweit nicht gegangen, einmal weil unsere Psychiatrie damit noch mehr aus dem medizinischen Kontext heraus gefallen wäre, zum anderen weil Diagnosen für eine Reihe von Fragestellungen notwendig sind: für die Verständigung mit anderen medizinischen Disziplinen, mit Krankenkassen, für Epidemiologie,  Psychopharmakotherapie, Versorgungsforschung und anderes.  Diagnosen und Symptome rückten in unserer Wahrnehmung in den Hintergrund. Sie wurden bei allen Fragen, die die psychosoziale Dimension betreffen, den Umgang mit den Patienten, der Psycho- und Soziogenese, von Psycho- und Soziotherapie, sozialer Rehabilitation bewusst ausgeblendet.

So konnten wir Psychotherapie in die psychiatrische Arbeit integrieren und wurden als einzige psychiatrische Klinik in der DDR als Ausbildungseinrichtung für Psychotherapie anerkannt. Um nach aussen wirksamer zu werden, gründete ich in den 80er Jahren in Absprache mit den wissenschaftlichen Fachgesellschaften eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe "Psychotherapie in der Psychiatrie", die allerdings wenig Anklang fand und in den Stürmen der Wende unterging. Somatische Behandlungsmethoden, Elektroschock- und Psychopharmakotherapie rückten an zweite Stelle. Allerdings müssen auch hier einseitige Positionen vermieden werden.

Das medizinische Krankheitsverständnis (seelisches Leiden als Hirnfunktionsstörung) hat auch seine Berechtigung als ein Teil der Wahrheit, der biologischen Natur des Menschen. Es ist u. U. für den Patienten  leichter zu ertragen, als das unbestimmt Bedrohliche der Psychose. Von Patienten hörte ich Äusserungen wie "Man weiss dann was man hat, und kennt den Weg zur Heilung, die ärztliche Behandlung, vor allem die Psychopharmaka." Dieser Weg befreit den Betroffenen von Verantwortung, die der Therapeut für ihn übernimmt, es ist im Grund eine Verdrängung, ein Abwehrmechanismus, der  akzeptiert werden muss. Voraussetzung ist, dass diese Entscheidung  verantwortlich vom Patienten selbst getroffen wird, sie sollte ihm nicht im Rahmen eines medizinischen Modells als kausale Behandlungsmöglichkeit durch ärztliche Autorität aufoktroyiert werden, wie das heute  üblich ist.  Ein ähnlicher Mechanismus wirkt bei den Angehörigen, die deshalb auf das medizinische Modell schwören. Es enthebt auch Angehörige, über eigene Anteile an der Störung und Veränderungen ihrer Beziehungen nachzudenken. Die gleiche Wirkung  auf Angehörige und Patienten haben die Neuroleptika durch ihre dominierende Stellung im psychiatrischen Therapiekonzept, sie betonen die Rolle der Psychiater, ihren Monopolanspruch auf Therapie. Hinzu kommen ihre oft erheblichen Nebenwirkungen,  die die Fähigkeiten des Betroffenen zur Selbsthilfe zusätzlich beeinträchtigen. Der Weg zur Aufarbeitung der Psychose ist damit verstellt. Nichts einzuwenden ist gegen Neuroleptika, wenn sie in niedriger Dosierung im Konsens mit dem Patienten im Rahmen eines psychotherapeutischen Behandlungskonzepts eingesetzt werden, um die Überschwemmung des Betroffenen mit psychotischen Erfahrungen zu überwinden, die eine  Kommunikation über ihre Inhalte behindert. Wir versuchten alles, um die Dosierung der Psychopharmakabehandlung zu reduzieren. Eine wesentliche Methode hierfür war die Orientierung an der "neuroleptischen Schwelle" (H. J. Haase).

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Auf dem Weg zur Therapeutischen Gemeinschaft.

Eine Institution hat immer hierarchische Strukturen, die die menschlichen Beziehungen wesentlich bestimmen. In der Medizin  sind diese Strukturen besonders ausgeprägt. In der Rangfolge vom Chef über den Pfleger bis zum Patienten steht der Patient als hilfsbedürftiges Objekt auf der untersten Stufe. In den somatischen Fächern kann dadurch die wünschenswerte aktive Mitarbeit der Patienten behindert werden, es tangiert aber nicht die Qualität der wesentlichen therapeutischen Strategien. In der Psychiatrie hingegen entscheiden diese Bedingungen in hohem Maß über die Qualität der Behandlung. Die pathogene Bedeutung dieser Zusammenhänge in der psychiatrischen Klinik als totaler Institution, die den Prozess der Hospitalisierung bedingen, wurde vor allem von E. Goffman beschrieben. Das meist schon im Vorfeld, noch mehr durch die Krankheit angeschlagene Selbstbewusstsein der Patienten, ihr Selbsthilfepotential und ihre soziale Kompetenz werden zusätzlich geschädigt. Die in der Psychiatrie so wichtige  gegenseitige Hilfe der  Betroffenen und die Hilfe der Angehörigen werden behindert, weil alles vom Experten erwartet wird, der ein Hilfemonopol beansprucht.

Ein wichtiges Anliegen der Reformbestrebungen war der Abbau, zumindest die Relativierung der hierarchischen Strukturen der Klinik und die Entwicklung eines akzeptierenden therapeutischen Klimas, das den Patienten bei der aktiven Auseinandersetzung und Bewältigung seiner Störung hilft. Wir orientierten uns an dem heute zu Unrecht fast vergessenen, damals aktuellem Konzept der Therapeutischen Gemeinschaft von M. Jones aus Grossbritannien,  das später von der psychiatrischen Klinik Brandenburg, von  K. Müller, S. Schirmer und H. Späte mit den "Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft" für die DDR propagiert wurde..

Ziel der Therapeutischen Gemeinschaft ist es, die Rolle des Betroffenen in der Institution grundsätzlich zu verändern. Es geht um seine Emanzipation  vom Objekt fürsorglicher oder therapeutischer Interventionen zum verantwortlichen Subjekt. Therapeutische Gemeinschaft und Gesprächstherapie haben viel Gemeinsames.  In den Vordergrund rücken an Stelle krankheitsbedingter Defizite die kreativen Möglichkeiten, Kompetenzen und persönliche Ressourcen, die gesunden Anteile des Patienten. An Stelle eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses wird eine partnerschaftliche intersubjektive Beziehung angestrebt. Das bedeutet vor allem eine Demokratisierung des Lebens in psychiatrischen Institutionen unter Einbeziehung der Patienten, ihre Mitbestimmung in der Einrichtung, auch bei der eigenen Therapie. Patienten werden verantwortliche, möglichst gleichberechtigte Partner bei der Planung, Leitung und Gestaltung des diagnostischen und therapeutschen Prozesses.

Prinzipien, wie sie heute in den Konzepten von Empowerment, Resourcenorientierung und Recovery modern sind, waren hier schon vorweggenommen.

Mit den Brandenburger Thesen gingen wir damals von einer Übereinstimmung der demokratischen Prinzipien der therapeutischen Gemeinschaft  mit dem sozialistischen  Menschen- und Gesellschaftsbild aus. Der Widerspruch zur Wirklichkeit,  zu den diktatorischen Strukturen der Gesellschaft wurde von uns kaum bewusst reflektiert. Wir liessen uns von dem euphemistischen offiziellen Bild der DDR täuschen, wohl auch, weil diese Strukturen in unserer Alltagswelt nicht so bestimmend waren. Gefördert wurde die Demokratisierung und die Emanzipation der Betroffenen durch die Annäherung der sozialen Beziehungen an das Prinzip der Gleichheit, durch die in der DDR generell viel flacheren Hierarchien, z. B. auch im Verhältnis Arzt und Pflegepersonal. Ein Kollege aus der BRD (F. Mann) erlebte in der Klinik "eine starke Gemeinschafts-, ja Familienatmosphäre (…) dass Rangunterschiede (…) nicht die geringste Rolle spielten, Direktor und Krankenschwester, Sekretärin, Fürsorger und Oberarzt an einem Tisch sassen, war selbstverständlich".  Im Kollektiv und im Umgang mit Patienten galt das Prinzip "ohne Titel, ohne Kittel". Das wurde von einigen Mitarbeitern zwiespältig reflektiert , der Verlust an Professionalität negativ bewertet. So gab es in der Klinik Möglichkeiten der Mitbestimmung für alle, demokratische Lebensformen, die heute schwer vorstellbar sind. Es entstand schon in den ersten Jahren ein Kollektiv engagierter junger Mitarbeiter, die über Jahrzehnte gemeinsam arbeiteten und für die die Entwicklung einer humanen Psychiatrie langfristige Lebensperspektive, eine gemeinsame Aufgabe war. Die meisten wissenschaftlichen Projekte  waren Kollektivarbeiten. Es ist für mich eine wichtige Erfahrung aus heutiger Sicht, dass Initiative, Engagement, Leistungsbereitschaft und Kreativität nicht nur in Konkurrenz- und Wettbewerbssituationen entstehen, möglichst noch marktwirtschaftlich unterlegt. Kollektivität,  Gemeinschaftlichkeit, gegenseitige Akzeptanz und Kooperation sind zumindest gleich bedeutsam. Die heutige Situation wird, wie mir scheint, im  Gegensatz dazu bestimmt durch einen  ausgeprägten  Egoismus und Individualismus, durch Konkurrenzverhalten und Prinzipien wie hohe Mobilität und Flexibilität mit knapp befristeten Arbeitsverhältnissen, geringer Bindung an die Institution und kurzatmigen, individuellen beruflichen Zielen und wissenschaftlichen Projekten. Ich denke, dass damit viele Ressourcen, die in Kooperation und Gemeinschaftlichkeit liegen, ungenutzt bleiben, Potenzen verschenkt werden. Die Identifikation mit der Institution und ihren Zielen bleibt fragmentarisch. Die Psychiatrie ist  besonders auf langfristige, personelle Kontinuität in den Beziehungen sowohl im Kollektiv als auch im Verhältnis zu den Patienten angewiesen.  Die sozialen Bedingungen in der DDR, die Nivellierung sozialer Unterschiede und die einheitliche Trägerschaft für alle Versorgungselemente machten die Vernetzung der verschiedenen Berufsgruppen und hierarchischen Ebenen möglich, eine kollektive Arbeit, in die alle, vom Chef bis zum  Patienten einbezogen waren. Die Koordination und Verflechtung aller Hilfen ist für die Psychiatrie ein unschätzbarer Vorteil.

Auf der psychiatrischen Abteilung der Universitätsklinik waren die Bedingungen nicht so deprimierend wie in den grossen psychiatrischen Kliniken. Das lag vor allem daran, dass wir, wie Universitätskliniken generell, keine Versorgungspflicht hatten, die Patienten auswählen konnten und vor allem jüngere Menschen mit prognostisch günstigeren weniger schweren akuten Psychosen aus gehobeneren Kreisen aufnahmen. Die räumlichen  Bedingungen waren schlecht, Zimmer  für 6 bis 15 Patienten, katastrophale sanitäre Ausstattung, für jede Station nur ein grosses, heruntergekommenes Bad, ebensolche Toiletten. Ich habe mich wegen dieser  unzumutbaren Verhältnisse oft geschämt. Trotz intensiver Bemühungen änderte sich daran bis zum Umzug in den Neubau eines Bettenhauses im Universitätsklinikum  in den 70er Jahren wenig. Die Abteilung hatte zunächst ein ziemlich  konservatives Profil. 2 der 4 Stationen waren als Aufnahmebereiche geschlossen, alle vergittert, strenge Geschlechtertrennung, nicht nur für die Stationen, sondern auch für den Aufenthalt im Garten. Selbst da durften Frauen und Männer nicht zusammen sein. Auf den geschlossenen Aufnahmestationen gab es Isolierzellen, die nur mit einer schäbigen Matratze ausgestattet waren und ausgiebig benutzt wurden, oft wurden Patienten nackt eingesperrt. Es herrschte ein strenges hierarchisches System, bestimmt von alteingesessenem autoritärem Pflegepersonal, den "Herren der Klinik" (K. P. Kisker), deren Arbeit sich auf eine Wärterfunktion beschränkte. Patienten galten als  Menschen zweiter Klasse. Ein Stamm älterer Pflegekräfte war noch von der Zeit des Faschismus geprägt. Auf den geschlossenen Stationen gab es Blechgeschirr, keine Messer und Gabeln aus Furcht,  Patienten könnten andere oder sich selbst verletzen. Die Aufenthaltsräume waren aus Angst vor aggressiven oder destruktiven Handlungen äusserst spärlich  ausgestattet. Patienten waren der Willkür des Personals hilflos ausgeliefert, menschliche Beziehungen zwischen Personal und Patienten verpönt.   Das therapeutische Programm beschränkte sich  auf die üblichen  Somatotherapien, damals vor allem Elektrokrampf- und später zunehmend Psychopharmakotherapie, sowie einfache arbeitstherapeutische Angebote im Interesse der Klinik, die nur minimal entlohnt wurden, eine Art der Sklavenarbeit..

Anfang der 60er Jahre begannen wir, d.h. ein Kollektiv jüngerer Ärzte, Pflege- und Hilfspersonal mit dem Aufbau eines modernen psycho- und soziotherapeutischen Behandlungsprogramms. Die Orientierung auf die psychosoziale Dimension war der Grund für die Einstellung von  klinischen Psychologen auf Arztstellen. Ihr Einsatz erfolgte nicht nur zur Diagnostik, als "Testknechte", wie bisher üblich, sondern gleichberechtigt mit dem Arzt als Therapeuten, integriert in die Stationskollektive. Später arbeiteten sie auch in leitenden Funktionen, z. B. als Leiter der Tagesklinik. Ziel war eine interdisziplinäre Kooperation mit den Medizinern und eine Betonung des psychologischen Aspekts .

In den 60er Jahren wurden bei der  Umgestaltung der Klinik wesentliche Veränderungen realisiert: als wichtigstes die Reduzierung von Zwang und Gewalt, Öffnung der  Stationen, Entfernung der Gitter, Aufhebung der Geschlechtertrennung, Abschaffung der Anstaltskleidung und der Isolierzellen, die in 2-Bettzimmer umfunktioniert wurden. Die individuelle therapeutische Beziehung, die Arztvisite wurden durch  psychotherapeutische Gruppen und Gruppenvisite ergänzt, in der die Patienten gegenüber der üblichen Visite aufgewertet und ihr therapeutisches Potential genutzt wurde. Verschiedene soziotherapeutische Gruppen (Musik, Pantomime, Physiotherapie, Sport, Tanz u. a.) ergänzten die Arbeitstherapie, zur stationären Behandlung kam eine integrierte Tages- und Nachtklinik. Es gab regelmässig gemeinsame Feste, Spiel-, Sport- und kulturelle Veranstaltungen, Urlaubsreisen u. a., die wesentlich die Kontakte zwischen Personal und Patienten förderten. Bei diesen Veranstaltungen gab es kaum hierarchische Schranken. Ich habe  sie selbst erlebt nicht als "Therapie" in der Rolle des Psychiaters, sondern wie gesellige Veranstaltungen ausserhalb der Klinik im sozialen Alltag und davon genauso profitiert wie die Patienten. Die Beziehungen zu  Patienten verloren an Professionalität und näherten sich dem Charakter von Freundschaften. Sie überdauerten oft den Rahmen der Therapie und blieben z. T. lebenslang erhalten, ein Zeichen, dass es sich nicht nur um äusserliche Ähnlichkeiten handelt. Durch Elemente der Patientenselbstverwaltung wie Patientenrat, Patientensprecher,  vielfältige Gruppenarbeit u.a. wurde die soziale Position der Patienten gestärkt, ihre Mitarbeit und Mitverantwortung bei der  Gestaltung des Lebens in der Klinik  gefördert. Die Mitglieder des Patientenrates hatten auch die Funktion eines Empfangskomitees, sie begrüssten neue Patienten, sprachen mit ihnen und führten sie in das Leben der Klinik ein. Das hatte  Vorteile gegenüber der üblichen Aufnahmeprozedur durch Pflegepersonal oder Ärzte. Die Aufnahme in einer psychiatrischen Klinik ist sehr oft  ein seelisches Trauma, ein Schock für den Patienten, das konnte so gemildert werden.

Aus heutiger Sicht, im Vergleich mit der  Psychiatrieerfahrenen-Szene, muss ich allerdings sagen, dass die Vertreter der Patienten damals sehr angepasst, systemkonform waren. Ich hätte mir mehr Kritik und Opposition gewünscht. Das lag sicher daran, dass die autoritären Strukturen der Gesellschaft  in die Klinik hinein wirkten, Einflüsse, die wir nicht in ihrer Ausprägung wahr genommen und deren Rolle wir unterschätzten. Damals haben wir auch die Möglichkeiten individueller Verhaltensweisen beim Abbau der Hierarchie über- und die Bedeutung struktureller Bedingungen im klinischen Alltag unterbewertet. Es kam aber doch zu einer Relativierung der hierarchischen Verhältnisse, zu einem familialen, dem  Alltagsleben angenäherten Klima mit demokratischen Umgangsformen unter Einbeziehung der Patienten. Wichtig für die Demokratisierung des Lebens war, dass wir ehemalige Patienten der Klinik, die sich in Gruppentherapien und im Stationsleben engagiert hatten, als Mitarbeiter, Pflegekräfte, Soziotherapeuten, Psychologen und Ärzte einstellten. Das rief anfänglich im Personal  heftigen Widerstand hervor. Die Vorstellung, auf eine Stufe mit psychisch Kranken gestellt zu werden, war für manche Mitarbeiter schwer zu ertragen. Die eingestellten ehemaligen Patienten und der für die Einstellung verantwortliche leitende Pfleger hatten mit erheblichen Schwierigkeiten, mit Demütigungen und Stigmatisierungen im Kollektiv zu kämpfen. Hier zeigte sich, wie tief noch die alten Vorurteile von der Minderwertigkeit psychisch Kranker sassen.

Grund für die Einstellung von Betroffenen war zunächst ein Arbeitskräftemangel vor allem im Pflegebereich. Die Tätigkeit der Betroffenen erwies sich aber über die quantitative Vermehrung des Personals hinaus in zweierlei Hinsicht als wesentliche Bereicherung.  Die neuen Mitarbeiter hatten oft ein besonderes Verständnis für die Lage und die Bedürfnisse der Patienten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Erkrankung und den Erfahrungen in der Psychiatrie vermitteln eine spezielle Kompetenz im Umgang mit psychisch Kranken, ein Faktum, das in anderen Ländern, z. B. in Grossbritannien mit der Einstellung als "Peer Specialists" intensiv genutzt wird, in Deutschland ansatzweise, aber m. E. viel zu wenig. Ausserdem beeinflussten die Psychiatrie-Erfahrenen die Einstellung zum psychisch Kranken und die Atmosphäre im Kollektiv positiv im Sinne der Entstigmatisierung. Sie wurden bald als normale Kollegen wahrgenommen, in Kollektivveranstaltungen wurde nicht mehr ironisierend oder abwertend über Patienten gesprochen. Guten Kontakt hatten wir zu den Kliniksseelsorgern, die z. T. an unseren psychotherapeutischen Weiterbildungen und Supervisionen teilnahmen.  Ich habe ihre Arbeit immer gefördert. Auf Grund ihrer humanistischen Einstellung sind sie in der Regel frei von professionellen Stereotypien, nehmen den Patienten in seiner Individualität wahr, versuchen ihn zu verstehen und sind offen für die spirituelle Dimension der Erkrankung und deren Erscheinungsformen, nicht als Krankheitssymptom, sondern als sinnhafte Erfahrung. Die oft pauschal ablehnende, feindliche Einstellung der Partei zu Religion und Kirche hat mich immer gestört. Eine gute Seelsorge ist nach meiner Erfahrung ein wichtiges Element der Versorgung.  Ziel war auch die Öffnung der Klinik zur Gemeinde. Die Zusammenarbeit mit Angehörigen, die Bildung von Angehörigengruppen und Familientherapie wurden fester Bestandteil unserer Arbeit. Wir verzichteten auf Besuchszeiten und animierten Angehörige, Freunde und Kollegen, möglichst oft zu kommen, um an der Behandlung mitzuwirken. Ebenso grosszügig erfolgten Beurlaubungen. Ausserdem wurden soziotherapeutische Aktivitäten in die Gemeinde (in einen Club der Volkssolidarität) gelegt. Patienten besuchten kulturelle Veranstaltungen, Konzerte, Oper, Schauspiel u. a. in der Stadt. Hierfür stand der Klinik ein verhältnismässig grosszügiger Kulturfonds zur Verfügung.

Durch diese Massnahmen verbesserte  sich das Klima auf den Stationen, die gesamte Atmosphäre entspannte sich, wurde alltagsnäher. Die von konservativen Kollegen geäusserten Befürchtungen der Häufung von Entweichungen und Suiziden, von denen auch wir nicht frei waren, bewahrheiteten sich nicht, tätliche Auseinandersetzungen und Fixierungen wurden seltener. Die Zahl der Zwangseinweisungen, die im Durchschnitt der DDR  bei 8 bis 12 % der jährlichen Aufnahmen lagen, betrug bei uns weniger als 1%.  Damit wurden den Patienten nachhaltige Traumatisierungen und Stigmatisierungen, wie sie fast regelhaft  mit der Zwangseinweisung verbunden sind, erspart.

Ungünstigere Bedingungen bestanden in der DDR  für wichtige Innovationen wie die Entwicklung von Selbsthilfeorganisationen und der Psychiatrieerfahrenen-Szene, besonders für die Antipsychiatriebewegung, die damals  in der westlichen Welt, bis in die 80er Jahre allerdings nur ansatzweise, entstanden. In der DDR wurden solche Entwicklungen durch den Fürsorgeanspruch des Gesundheitswesens und das autoritäre gesellschaftliche System behindert. Sie sind wesentliche Bedingungen der Emanzipation psychisch Kranker. Selbsthilfeaktivitäten wurden als Konkurrenz und Infragestellung des professionellen staatlichen Systems gesehen. Es war eine falsche Auffassung, dass Aktivitäten von  Betroffenen im Rahmen offizieller staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen wie Kommissionen der Volksvertretungen, der Sozialversicherung, Gewerkschaften oder anderen Institutionen zu realisieren seien. Sie war sicher auch geboren aus Furcht vor Kritik. Interessante spontane Entwicklungen auf diesem Gebiet offenbarten sich nach der Wende. Ohne Wissen und  Kontakte zu Professionellen bestand in Leipzig Jahre vor der Wende eine Selbsthilfegruppe schizophrener Patienten, die "Schizeria". Nach der Wende expandierte die Gruppe und hatte wesentlichen Anteil an der Entwicklung der heute weithin bekannten Psychiatrieerfahrenen-Initiative "Durchblick e. V. Leipzig". Eine stärkere öffentliche Wirksamkeit, eine  engere Zusammenarbeit mit den Reformbestrebungen der Klinik und vielfältigere Selbsthilfeaktivitäten kamen  erst nach dem Zusammenbruch der  staatlichen Machtstrukturen der DDR in der Wende  zustande.

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Sozial- und Sektorpsychiatrie.

Wichtig für uns war die Erfahrung, dass die Person, die  Psychose eingeschlossen, in ihrem Wesen nur wahrgenommen werden kann, wenn sie in ihren konkreten sozialen Beziehungen in der Familie, der Arbeitswelt und Nachbarschaft u. a. erfasst wird. Dadurch ergab sich das Bedürfnis,  nicht nur den Patienten mit seiner Psychose zu sehen, sondern auch seine Welt, das soziale Feld, die Familie, die berufliche Situation, Freizeitgestaltung, Freundschaften. Durch viele Untersuchungen  ist erwiesen, dass die Stellung des Betroffenen im Gemeinwesen eine entscheidende Bedeutung für die Entstehung, den Verlauf und die Behandlung von psychischen Krankheiten hat. Eine stabile Situation in der Familie, gute Beziehungen in der Arbeits- und Wohnwelt, im Freizeitbereich, reduzieren das Erkrankungsrisiko, bedingen einen günstigeren Verlauf im Vergleich zu Patienten, die isoliert sind, bei denen das soziale Netz brüchig, nicht tragfähig ist.

Hier erwies sich das ursprüngliche Versorgungsprofil der Universitätsklinik als Nachteil. Zu uns kamen Patienten nicht nur aus Leipzig, sondern auch aus anderen Bezirken, aus dem ganzen Land. Dadurch war es sehr schwierig, das individuelle soziale Feld zu erfassen und Einfluss auf die sozialen Beziehungen zu nehmen. In der Wahrnehmung der Therapeuten dominierte infolge der in der Regel kurzfristigen Behandlung der Querschnittsaspekt, neben der individuellen die klinische, symptomatologische und diagnostische Perspektive.

Eine differenzierte Kenntnis des sozialen Herkunftsfeldes, von Biographie und  sozialer Situation des Patienten und eine effektive Gemeinwesenarbeit ist nur möglich, wenn sich die Klinik je nach Struktur des Einzugsbereichs auf einen begrenzten Sektor von c.a. 150 000 Einwohnern beschränkt, z. B. auf einen Stadtbezirk.  Diese "Sektorisierung" ist Voraussetzung für die Orientierung des therapeutischen Programms auf die Lebenssituation des Patienten, für die Funktion des Psychiaters als Mittler zwischen dem Patienten und seiner Welt und die Mobilisierung von Bürgerschaftshilfen. Diese Mediatorfunktion gewinnt im Zuge der Psychiatriereform immer mehr an Bedeutung gegenüber therapeutischen Interventionen am individuellen Patienten, die im traditionellen Therapiekonzept im Vordergrund stehen. Diese Veränderung unserer Perspektive von der Orientierung auf das Subjekt des Patienten  zu seinem sozialen Umfeld, der Lebenswelt und damit zur Gemeindepsychiatrie vollzog sich  Ende der 60er bis Anfang der 70er Jahre. Die klinische und individuumzentrierte Sichtweise der stationären Institution wurde ergänzt durch ein sozialpsychiatrisches Krankheitsverständnis. Der Fokus unserer Aufmerksamkeit verlagerte sich auf psychische Störungen in ihrer lebensgeschichtlichen Dimension und in der Wechselbeziehung mit dem sozialen Netz. In den Vordergrund rückte neben der therapeutischen Funktion die Rolle der Psychiatrie als  Ordnungs- und Sozialisationsinstanz, auch mit ihren negativen Aspekten von Stigmatisierung, Labeling u. a.

Wichtig waren für uns die Arbeiten der Vertreter der psychiatrischen Antipsychiatrie und Labelingtheorie wie J. Cooper, Th. Scheff, T. Szasz und besonders R. Laing,  Wesentliche Anregungen für diese Entwicklung erhielten wir durch die Arbeiten von K. Dörner und M. Foucault über die Psychiatrie als gesellschaftliche Institution und ihre Geschichte, die italienische Psychiatrie von F. Basaglio, die ethnomethodologischen Studien von Ch. Fengler, Th. Fengler und anderen.

Diese zweite Stufe der Psychiatriereform bedeutete eine grundsätzliche Veränderung des Versorgungskonzepts, einen Paradigmenwechsel in der Versorgungsstruktur, den Übergang von einem klinikzentrierten, fürsorgeorientierten Versorgungssystem, wie es noch in den Rodewischer Thesen enthalten war, zu einer dezentralisierten gemeindepsychiatrischen Struktur und einem bürgerschaftszentrierten Ansatz.  Die Idee, auch die Funktion von Universitätskliniken an dem Prinzip der Sektorisierung zu orientieren, ging auf eine Veröffentlichung von H. Häfner über Struktur und Funktion Psychiatrischer Universitätskliniken zurück.

In Absprache mit der Stadt und dem Psychiatrischen Krankenhaus Dösen übernahmen wir nach längeren Verhandlungen 1974 die Pflichtversorgung für den Stadtbezirk Süd als unseren Sektor, kurz, nachdem die Psychiatrische Universitätsklinik Hannover, mit der wir schon seit den 70er Jahren enge Beziehungen hatten, diesen Schritt getan hatte. In der Klinik gab es hierzu heftige Diskussionen. Gegengründe waren vor allem Bedenken, dass durch die zu erwartende höhere Belastung mit Betreuungsaufgaben und den Verlust, der Möglichkeit ausgewählte Patienten aufzunehmen, die Forschung leiden könnte. Für mich hatte jedoch Priorität die Realisierung eines Modells moderner sozialpsychiatrischer Versorgung für Leipzig und die DDR. Entscheidend war, wie auch die Psychiatrie-Enquête in der BRD zeigte, dass es in der damaligen desolaten Situation der stationären und ambulanten Versorgung keiner aufwendigen Forschung bedurfte, um zu wissen, was für die Reform der Psychiatrie notwendig war, um  für Leipzig eine effiziente und humane psychiatrische Versorgung zu realisieren. Allerdings war die Sorge um die Forschung begründet. Aussichtsreiche und auch im Ausland anerkannte Forschungsansätze unserer Klinik, wie die Familienuntersuchungen und die Arbeiten zur sozialen Distanz psychisch Kranker konnten nicht mit der wünschenswerten Intensität fortgeführt werden.

Leipzig Süd war damals mit 110000 Einwohnern der grösste und von der sozialen Zusammensetzung her schwierigste Stadtbezirk.. Es entwickelte sich in der Klinik so etwas wie eine Hausarztmentalität. Die Übernahme der Versorgungspflicht für den Stadtbezirk hatte eine radikale Veränderung der  Patientenzusammensetzung und der Anforderungen im Hinblick auf Diagnostik und Therapie zur Folge. Während wir früher vor allem jüngere Patienten aus gehobeneren Schichten mit akuten Psychosen behandelten, nahmen wir jetzt Menschen jeden Alters,  mit allen Diagnosen und Verlaufsformen auf. Besonders die Zahl der Patienten mit Suchterkrankungen, vor allem Alkoholismus und psychische Alterserkrankungen, chronische Psychosen und Menschen aus unteren sozialen Schichten nahmen stark zu.  Das erforderte eine Umstellung des therapeu­tischen Programms auf die Bedürfnisse eines solchen breiten Spektrums von Menschen und Krankheiten, die nicht ganz einfach war, aber weniger schwierig als erwartet. Die zu bearbeitenden Probleme und Konflikte der verschiedenen Diagnosegruppen und die psychotherapeutischen Anforderungen hatten mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Wir konnten, entgegen anfänglicher Bedenken, das  Offene-Tür-System durchhalten. Die Durchmischung von Menschen aller Altersgruppen, aller Diagnosen, Verlaufsformen und Bevölkerungsschichten hatte einen unerwarteten Vorteil. Das Klima in der Klinik änderte sich weiter in Richtung Normalität. Bis dahin behandelten wir vor allem  Menschen mit Schizophrenie und Depression. Die Konzentration bestimmter Diagnosen in einer Station führt immer zu einer Potenzierung von psychischer Gestörtheit, von Depressivität, Verrücktheit, Abhängigkeit oder Ähnlichem. Sie bedeutet auch, trotz des Bemühens um Individualisierung, eine Fokussierung der Wahrnehmung sowohl der Therapeuten als auch der Betroffenen auf klinische Symptome und diagnostische Klassifikationen, auf das medizinische Krankheitsverständnis und damit die Ausblendung von Individualität und Lebenswelt. Folge der medizinischen Perspektive ist professionelles Verhalten des Personals, eine Expertenkultur. Durch die Sektorisierung änderte sich das. Die Durchmischung hatte zur Folge, dass sich die verschiedenen Formen abweichenden Verhaltens gleichsam gegeneinander ausglichen, das  Manische gegen das Depressive, Schizophrenes gegen Süchtiges. Besonders günstig auf das Stationsklima und auf die sozialen Beziehungen wirkte sich das Zusammenleben von jungen und alten Menschen aus, weil sich die unterschiedlichen Kompetenzen und Lebenserfahrungen ergänzten.

Das Milieu auf Station wurde alltagsnäher, lebendiger und damit therapeutisch günstiger. Das nicht diagnostisch verengte Bild vom Patienten, die Achtung und Wertschätzung seiner Person, förderten das Selbsthilfepotential und gegenseitige Hilfe. Die bedrückende, verrückte oder hoffnungslose Atmosphäre durch die Häufung von schizophrenen oder gerontopsychiatrischen Erkrankungen konnte so vermieden werden. Nachdem sich dieses Konzept ein Jahr bewährt hatte, wurde es, wie geplant, auf die ganze Stadt ausgedehnt. Leipzig wurde in 4 Sektoren aufgeteilt, 2 Sektoren übernahm das städtische psychiatrische Krankenhaus Dösen, etwas später das Psychiatrische Krankenhaus Altscherbitz einen Vierten. Diese Entwicklung  brachte für Leipzig ein modernes Psychiatrisches Versorgungssystem, das selbst die Stürme der Wende überstanden hat und heute noch mit seinen poliklinischen Elementen als gemeindepsychiatrischer Verbund  existiert.

Wesentliche Voraussetzung für diese Entwicklung war die enge kooperative Beziehung zwischen Universitätsklinik und Städtischer Klinik, die von Prof. B. Schwarz, meinem früheren Chef an der Universität, geleitet wurde. Eine solche Beziehung zwischen Universitätsklinik und städtischer psychiatrischer Klinik war eine Ausnahme, nicht nur in der DDR. Universitätspsychiatrie und Anstaltspsychiatrie  waren in Deutschland schon immer zwei weit­gehend voneinander getrennte Entwicklungslinien, die kaum etwas miteinander im Sinne hatten, eine "Zweiklassenpsychiatrie", zwischen denen es unglückliche Rivalitäten gab. Universitätskliniken waren finanziell, personell und materiell besser ausgestattet, verfügten über den grössten Teil der Forschungskapazität und bestimmten  die theoretische Entwicklung im Fachgebiet. Sie behandelten  leichtere,  prognostisch günstigere Erkrankungen und Menschen aus gehobeneren Schichten.  Die psychiatrischen Krankenhäuser betreuten vor allem  schwere akute und  chronisch Kranke. Folge war bei den Bemühungen um eine Psychiatriereform eine Konfrontation, die wir vor der Sektorisierung erlebten. "Ihr habt es leicht, Psycho- und Soziotherapie einzuführen, die Stationen zu öffnen, ihr habt ja nur die besseren und leichteren Patienten" hiess es, nicht zu Unrecht. Psychiatrische Theorie und Forschung wurden wegen ihrer Irrelevanz für die brennenden Fragen der psychiatrischen Versorgung von den Psychiatrischen Krankenhäusern wenig respektiert. Dieser Vorwurf war nach der Sektorisierung nicht mehr möglich und es entstand eine fruchtbare Beziehung von Universitäts- und Versorgungspsychiatrie.

Es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit der Sektorkliniken mit den zuständigen Polikliniken der Leipziger Stadtbezirke, die im Laufe der Zeit leistungsfähige ambulante psychiatrisch-neurologische Abteilungen mit tagesklinischen Plätzen und multiprofessionellen Kollektiven von Ärzten, Psychologen und Pflegepersonal aufbauten. Sie kooperierten eng mit den anderen medizinischen Disziplinen der Polikliniken, für die gerontopsychiatrische Versorgung ein unschätzbarer Vorteil.

Als Defizit erwies sich anfangs, dass die Polikliniken nur für die medizinische Behandlung in der Psychiatrie zuständig waren, während soziale Betreuung und hoheitliche Aufgaben von der den Stadtbezirken unterstellten psychiatrischen Fürsorge geleistet wurden. Die psychiatrische Fürsorge war auch verantwortlich für die damals noch sehr unterentwickelten komplementären Hilfen. Eine  Zusammenarbeit der Fürsorge mit den Polikliniken bestand kaum. Um diese Doppelgleisigkeit, die auch mangelnde Koordination und Kooperation der verschiedenen Hilfen und eine Zerstückelung des Patienten bedeutete, zu überwinden, setzte ich mich mit Unterstützung von Prof. Schwarz dafür ein, dass die psychiatrischen Fürsorgeabteilungen den psychiatrisch neurologischen Abteilungen der Polikliniken unterstellt wurden. Nach längerem Widerstand seitens der Stadtbezirke konnten wir damit erreichen, dass die medizinische und soziale Betreuung in einer Hand, unter einem Dach zusammengeführt wurde. Die Vereinigung von Polikliniken, d. h. medizinischer Hilfe (heute wären das die niedergelassenen Psychiater) und Fürsorge (heute die sozialpsychiatrischen Dienste),  war einer der wichtigsten Schritte der Reform zur Realisierung einer integrierten, ganzheitlichen, gemeindepsychiatrischen Versorgung. Gefördert wurde in den Polikliniken vor allem die aufsuchende und multiprofessionelle Arbeit.  Zwischen Klinik und Poliklinik wurde ein Vertrag über die Zusammenarbeit abgeschlossen. Wir hatten gemeinsame Weiterbildungen, regelmässige  "Fall"besprechungen, es gab einen Austausch von Mitarbeitern und viele andere Kontakte. Die enge Zusammenarbeit von Station und Ambulanz, die Vermischung der Aufgaben hatte grosse Vorteile für die stationäre Arbeit. Der Patient wurde auch in den gesunden Phasen und in seiner Lebenswelt, mit seiner Geschichte, seiner familiären und beruflichen Situation und seinen Kompetenzen wahr genommen. Dieses andere, wirklichkeitsnahe Bild des Patienten veränderte  die Einstellung, das Menschenbild der stationären Mitarbeiter,  das früher nur vom Erleben der schweren Störungen in der akuten Psychose geprägt war. Diese Längsschnittperspektive, orientiert auf den lebensgeschichtlichen und sozial-situativen Kontext der psychischen Erkrankungen, ist eine notwendige Ergänzung der auf die akute Störung und den Querschnittsaspekt fokussierten Perspektive der stationären Institutionen, die für gemeindepsychiatrisches Handeln irrelevant, ja hinderlich ist.

Poliklinische Abteilungen boten auch die Chance, die allerdings im kurzen Leben der DDR nur ansatzweise realisiert wurde, im Fachgebiet gleichberechtigt neben den klinischen Einrichtungen eigenständige wissenschaftliche Institutionen zu profilieren mit spezifischem theoretischen, der ambulanten Behandlung angemessenem psychosozialen Krankheitsverständnis und eigener  Handlungslogik  die für eine gemeindepsychiatrische Reform dringend notwendig sind. Heute, nach der Zerstörung der Polikliniken in der Wende, der Aufteilung der Trägerschaft für stationäre, ambulante und komplementäre Behandlung, der Zersplitterung der komplementären Hilfen und der Erneuerung der Spaltung medizinischer und sozialer Betreuung auf niedergelassene Ärzte und sozialpsychiatrische Dienste, sind die damaligen Möglichkeiten der Zusammenarbeit kaum mehr vorstellbar. Trotz der ständigen Beschwörung einer  "integrierten Behandlung" wird der Patient zerstückelt, werden heute die Beziehungen zwischen Professionellen und Betroffenen, die Koordination und Kooperation der verschiedenen Hilfen durch betriebswirtschaftliche Egoismen und Konkurrenzdenken erheblich behindert. Schon die Enquête hatte festgestellt, dass die stationär-ambulante Kooperation und die Koordination aller an der Versorgung beteiligten Einrichtungen und ein gemeinsames  Versorgungskonzept ein entscheidendes Kriterium der Behandlungsqualität sind.

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Soziale Integration und Rehabilitation psychisch Kranker.

Ein wichtiger und interessanter Arbeitsbereich war in der DDR die berufliche und soziale Rehabilitation der Patienten. Das Recht auf Arbeit galt auch für psychisch Kranke und Behinderte, Grundlage war eine fortschrittliche Rehabilitationsgesetzgebung , die "Anordnung zur Sicherung des Rechts auf Arbeit für Rehabilitanten" von 1969, die später noch ergänzt wurde. Sie gab dem Arzt und den Rehabilitationskommissionen der Kommunen bzw. der Betriebe weitgehende, heute nicht vorstellbare Einflussmöglichkeiten auf die Einstellung, den Einsatz und die Arbeitsbedingungen für psychisch Kranke in den Betrieben. Hinzu kamen  eine andere Situation auf dem Arbeitsmarkt, keine Arbeitslosigkeit, eher Arbeitskräftemangel. Die Betriebe waren zur Einstellung von Kranken und Behinderten verpflichtet und erhielten lange Zeit zusätzliche Lohnmittel. So hatten 70 - 80 % der Betroffenen, auch der chronisch psychisch Kranken, Arbeit in normalen Betrieben, sie arbeiteten auf geschützten Einzelarbeitsplätzen, in geschützten Betriebsabteilungen oder Werkstätten Das galt auch, wenn der Rehabilitant Invalidenrente bekam. Invalidenrente wurde gewährt, wenn das Einkommen weniger als 2/3 des normalen Verdienstes betrug.. Die Tätigkeit konnte in ihrem Umfang flexibel an das individuelle Leistungsvermögen angepasst werden. Gegenüber Westdeutschland und der heutigen Situation gab es kaum Leistungs- und Konkurrenzdruck, das Produktivitäsniveau war niedriger. Die  zuerst von der Dresdner Psychiatrischen Universitätsklinik  eingeführte "ausgelagerte Arbeitstherapie" in den Betrieben, die noch von den Kliniken über das Arbeitstherapiegeld finanziert wurde, war oft eine Brücke zur Anstellung. Die Integration der Betroffenen in die normale Arbeitswelt hatte besondere Bedeutung, weil, anders als heute, die Betriebe mit ihren Gewerkschaftsorganisationen Zentren für soziale Kommunikation waren, auch für Freizeit, kulturelle und sportliche Betätigung, für Urlaubsgestaltung, für Weiterbildung. Hier wurden auch die psychisch Kranken einbezogen. Es gehörte zu unseren Aufgaben im Sinne der Mediatorfunktion mit den Rehabilitationskommissionen, auch mit Vorgesetzten und Kollegen über den Einsatz der Patienten zu sprechen, bei Schwierigkeiten im Kollektiv zu vermitteln, Konflikte lösen zu helfen. So konnten nichtprofessionelle Hilfspotentiale von Kollegen und  des Kollektivs mobilisiert werden. Heute ist der überwiegende Teil psychisch Kranker arbeitslos mit entsprechenden destruktiven psychischen und sozialen Folgen.

Ähnlich war es in der Wohnwelt. Auch Menschen mit chronischen Psychosen  lebten in der Regel in ihren eigenen, normalen Wohnungen, hatten allerdings oft  schlechtere Wohnverhältnisse. Kündigung der Wohnung oder Zwangsräumung, selbst bei erheblichen Verhaltensstörungen gab es kaum. Auch das Recht auf Wohnung war gewährleistet. Obdachlosigkeit unter  psychisch Kranken, die heute nicht selten ist und ständig zunimmt, kam nicht vor. Sie wurden in ihren Wohnungen von den Fürsorgerinnen der Polikliniken betreut. Deren Kapazität war vor allem für schwerer gestörten Menschen oft nicht ausreichend, so dass die Mitarbeiter der stationären Einrichtungen, Ärzte und Psychologen einspringen mussten. Auch im Bereich des Wohnens  konnten  nichtprofessionelle, bürgerschaftliche Ressourcen, Hilfe durch Familie und Mitbewohner, eine Nachbarschaftsmentalität genutzt werden.

Alternativen zum Leben in der eigenen Wohnung, Heime für psychisch Kranke, Wohngemeinschaften  gab es kaum. Wenn die Betreuung in der eigenen Wohnung von der Poliklinik nicht im nötigen Umfang realisiert werden konnte, blieb nur die Unterbringung auf einer Langzeitstation des psychiatrischen Krankenhauses unter meist sehr ungünstigen Bedingungen mit dem Ergebnis der Hospitalisation. Das bedeutete oft den Verlust der eigenen Wohnung. Wieviel der Patienten davon betroffen waren, hing von der Qualität der ambulanten Behandlung ab. In unserem Verantwortungsbereich war das die extreme Ausnahme. Das auch heute geforderte Normalisierungsprinzip, die Teilhabe der psychisch Kranken an den sozialen Strukturen der Gesellschaft für "Normale", konnte  weitgehend realisiert, die Ausgrenzungslogik der Psychiatrie überwunden werden. Für diese Möglichkeiten der sozialen Teilhabe entscheidend waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: die Ausschaltung marktwirtschaftlicher Mechanismen, die Annäherung an das Prinzip Gleichheit, die geringere Hierarchisierung in der Gesellschaft, die Förderung von Gemeinschaftssinn, menschlicher Zuwendung,  wechselseitiger Verantwortung  und  Toleranz.

K. Dörner wies in letzter Zeit wiederholt auf die Notwendigkeit der Deinstitutionalisierung und der Verbindung von professioneller und Bürgerhilfe hin und sieht in diesem Mix zu Recht die Perspektive der Versorgung. Die Erfahrungen in der DDR könnten dafür nützlich sein.

Abweichendes Verhalten in der Arbeits- und Wohnwelt wurde in dem autoritären System durchaus akzeptiert, mehr als heute. Das Fehlen eines Netzwerks komplementärer psychiatrischer Angebote für Wohnen, Arbeit und Freizeit, das bei der Bewertung der DDR-Psychiatrie oft (auch in der Psychiatrie-Enquête Ost) als Mangel angeführt wird, war m. E. eher ein Vorteil. Unter den Bedingungen des realen Sozialismus bestanden in der Arbeits- und Wohnwelt im Vergleich zur BRD  für psychisch Kranke bessere Möglichkeiten der Integration, der sozialen Partizipation, die von der Psychiatrie genutzt werden konnten. Diese Praxis in der DDR hatte wesentliche Vorteile gegenüber den heute dominierenden geschützten Angeboten wie Werkstätten für Behinderte, Tages- und Kontaktstätten, Heime, Wohnstätten und geschütztes Wohnen. Die setzen die Ausgrenzungslogik der Psychiatrie , wenn auch im Vergleich zu den psychiatrischen Anstalten auf höherem Niveau fort, auch sie haben Ghettocharakter. Es zeigt sich heute immer deutlicher, dass solche komplementären Hilfen zwar eine wesentliche Verbesserung der Lebensqualität gegenüber der Anstaltspsychiatrie bringen, aber unter den Bedingungen einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft neue, diffizilere Formen sozialer Ausgrenzung und Kontrolle, der Verwaltung psychischen Krankseins bedeuten. Kritisch zu sehen ist, dass schon damals bei uns, und seitdem zunehmend, die Tendenz besteht, dass die sozialen Interventionen gegenüber der Subjektorientierung und der Psychotherapie in den Vordergrund rücken, technokratisch entarten, den Patienten zum Objekt machen, ihm übergestülpt werden und so kontrollwissenschaftlichen Charakter annehmen,. Hier liegt eine Ursache dafür, dass Betroffene oft keinen wesentlichen Unterschied zwischen medizinischer und Sozialpsychiatrie machen, in beiden Systemen werden Freiheit und Selbstbestimmung beschnitten.

Die Integration der Betroffenen in das normale Leben der Kommune funktionierte natürlich nicht von allein und war im Lande bei weitem nicht die Regel. Es gab auch hier die alten, historisch begründeten Vorurteile und Ausgrenzungstendenzen in der Wohn- und Arbeitswelt mit dem Ergebnis sozialer Isolation und Verwahrlosung oder der Langzeitunterbringung im psychiatrischen Krankenhaus. Voraussetzungen für die soziale Integration der Betroffenen, wie ich sie beschrieben habe, waren ausser den Regelungen der Rehabilitationsgesetzgebung ein entsprechendes sozialpsychiatrisches Krankheits- und Therapiekonzept, Engagement, die Mediatorfunktion der Therapeuten, und die Förderung von Solidarität und Gemeinsinn. Es wird hier deutlich, dass die Psychiatriereform nur als gesamtgesellschaftliche Veränderung erfolgreich sein kann. Die Möglichkeiten der beruflichen und sozialen Rehabilitation waren deshalb so günstig, weil wesentliche Ursachen der Ausgrenzungslogik wie Marktwirtschaft, Leistungs- und Konkurrenzdruck und Profitorientierung in der Arbeit- und Wohnwelt weitgehend wegfielen. Vor allem im Vergleich zur Gegenwart wird hier deutlich, wie sich menschliches Verhalten und menschliche Beziehungen entwickeln können in einer Gesellschaft, die sich auf Kollektivität, Gemeinsinn, Kooperativität gründet. In der DDR bestanden für psychisch Kranke Möglichkeiten der Integration und sozialen Partizipation, von denen wir jetzt wieder weit entfernt sind. Wenn man mit J. F. Kennedy davon ausgeht, dass sich das geistig-kulturelle Niveau einer Gesellschaft darin zeigt, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern, den psychisch Kranken umgeht, so steht die DDR hier nicht schlecht da.

Diese Situation hat auch ein Kehrseite, die mir erst nach der Wende deutlich wurde und die zumindest zwiespältig zu sehen ist. Die Betroffenen waren in der Arbeits- und Wohnwelt, im Kontakt mit den  Gesunden einem erheblichen normativen Druck zur Anpassung ausgesetzt. Bei Störungen wurde frühzeitig psychiatrische Hilfe in Anspruch genommen, oft veranlasst von  Arbeitskollegen  oder Nachbarn.  An Formen des Andersseins, alternative Lebenswelten, wie ich sie heute in der Psychiatrieerfahrenen-Szene oder in komplementären Institutionen erlebe, kann ich mich kaum erinnern.  Die Freiheit zur Verrücktheit war eingeschränkt, der Zwang zur Normalität stärker. Normalität wurde aber durch Akzeptanz, Integration und soziale Partizipation belohnt .  Kollegen aus Westdeutschland registrierten,  "bei euch sind die Patienten draussen in der Gesellschaft viel weniger verrückt als bei uns". Die besseren Möglichkeiten der sozialen Integration gingen wohl zu Lasten der kreativen Anteile der Psychose, ihrer Verarbeitung, von Sinnfindung und neuem Leben. Wie das zu bewerten ist, möchte ich nicht entscheiden, hier wären die Betroffenen gefragt.

1974 erhielten wir die Möglichkeit, von Dösen in das neue Bettenhaus der medizinischen Fakultät der Universität in der Liebigstrasse im Stadtzentrum von Leipzig umzuziehen. Damit übernahmen wir im Hochschulklinikum die Funktion einer Psychiatrischen Abteilung am Allgemeinkrankenhaus. Es wurde eine alte Forderung der Sozialpsychiatrie erfüllt, dass der psychisch Kranke die Klinik durch die gleiche Tür betritt wie der körperlich Kranke. Dadurch wurde die Stigmatisierung reduziert, die Sonderstellung des psychisch Kranken  gegenüber dem  körperlich Kranken abgebaut. Es lockerten sich zwar die Kontakte zum städtischen Psychiatrischen Krankenhaus, ein Nachteil, der aber durch die Beziehungen zu den anderen Medizinischen Disziplinen im Hochschulklinikum und die wesentlich besseren räumlichen und sanitären Bedingungen  ausgeglichen wurde. Verbesserungen ergaben sich für uns bei der Behandlung von psychiatrischen Notfällen durch die Zusammenarbeit mit der Intensivmedizin und für die Behandlung organischer Krankheiten bei psychiartischen Patienten, besondders der Gerontopsychiatrie. Unser Betreuungsprofil wurde durch  umfangreiche Anforderungen von psychiatrischer und psychotherapeutischer Konsiliararbeit in den anderen Kliniken, vor allem in der Inneren Medizin und  Chirurgie erweitert. Im Rahmen dieser Aufgaben konnte Offenheit für die psychosoziale Dimension von Krankheit in diesen Disziplinen gefördert werden.

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Wissenschaftliche Arbeiten.

Wesentlich für unsere wissenschaftliche Arbeit war die enge Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, mit Prof. Thom und seiner Forschungsgruppe. Wir bearbeiteten ein breites  Themenspektrum :

Fragen der Entwicklung des Gesundheitswesens der DDR und die Reformen der Psychiatrie, ethische Fragen von Medizin und Psychiatrie, insbesondere der Umgang mit psychisch Kranken und Behinderten und deren soziale Probleme, Theorie der Psychiatrie, das Verhältnis biologischer, psychologischer und sozialer Zusammenhänge und das psychiatrische Krankheitsverständnis.

Diese Fragen wurden auf dem Hintergrund der Geschichte der Medizin und Psychiatrie, unter besonderer Berücksichtigung der Zeit des Faschismus und der Euthanasieverbrechen reflektiert. Diese Untersuchungen erfolgten im Rahmen von zahlreichen Diplom- und Dissertationsarbeiten von Ärzten der Klinik. Widerstände gegen diese Untersuchungen kamen vor allem aus den Psychiatrischen Krankenhäusern.  Die Auffassung, dass Euthanasie normaler Bestandteil psychiatrischer Praxis sei und ihre kritische wissenschaftliche Aufarbeitung Nestbeschmutzung ist, war unterschwellig  noch vorhanden.

Die Arbeiten waren wesentliche Elemente der Auseinandersetzung mit der Psychiatrie in der DDR und ihren Reformansätzen, sie gingen auch in die Aus-, Weiter- und Fortbildung im Fachgebiet ein.

Weitere Forschungsthemen der Klinik, meist Gemeinschaftsarbeiten von Psychiatern und Psychologen waren:

Untersuchungen zur Bedeutung der Familie als soziale Gruppe für schizophrene Erkrankungen (angeregt vor allem durch entsprechende amerikanische Forschungen), Fragen der sozialen Stellung psychisch Kranker, besonders das Arzt- Pflegepersonal-Patientverhältnis und die soziale Distanz zu psychisch Kranken in der Gesellschaft, Psycho- und Soziotherapie, Evaluation unseres Versorgungskonzepts gemeindenaher sektorisierter Psychiatrie, gemeinsam mit anderen stationären und ambulanten Einrichtungen.

In der DDR hatten wir nur begrenzte Möglichkeiten der Veröffentlichung. Es gab nur eine Fachzeitschrift ("Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie") mit geringer  Kapazität. Hinzu kam, dass die von uns bearbeiteten Themen in der Psychiatrie der DDR wenig Akzeptanz fanden. Wir veröffentlichten unsere wissenschaftlichen Arbeiten  in 4 Monographien zum Thema Sozialpsychiatrie. Die letzte erschien zweisprachig in Zusammenarbeit mit dem Bechterew-Institut im jetzigen St. Petersburg, mit dem uns eine langjährige wissenschaftliche Kooperation verband. Sie enthielt gemeinsame theoretische Positionen zur Sozialpsychiatrie und ihrem Krankheitsverständnis, Ergebnisse kooperativer Forschungen und praktische Erfahrungen bei der Reform der psychiatrischen Versorgung.

Das Gesundheitsministerium vergab für die verschiedenen medizinischen Disziplinen Forschungsaufträge zur Bearbeitung von Schwerpunktproblemen der Fachgebiete.

In den Jahren von 1970 bis 1980 leitete ich das entsprechende Forschungsprojekt für die Psychiatrie mit der nichtssagenden Überschrift "Psychonervale Störungen" . Es handelte sich um einen Verbund wissenschaftlicher Institutionen, in dem  ursprünglich, entsprechend dem DDR-Trend, die Leipziger Hirnforschung dominierte, deren Chef, Prof. Wünscher, auch zunächst die Projektleitung hatte. Ich habe das Projekt umstrukturiert, den Schwerpunkt auf versorgungsrelevante Probleme von Psychotherapie, klinischer Psychiatrie, Psychopharmakotherapie und Sozialpsychiatrie gelegt. Daran beteiligt waren ambulante und stationäre Einrichtungen der Psychiatrie und Psychotherapie, der Arbeitsmedizin, der Klinischen Psychologie sowohl im staatlichen Gesundheitswesen und an Hochschulen. Zu Forschungsgruppen in der Sowjetunion, in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen bestanden Kooperationsbeziehungen.

Neben Fragen psychiatrischer Theorie,  Psychotherapie, klinischer Psychiatrie, psychopathologischer Befunddokumentation, Pharmakotherapie,  Alkoholismus und forensischer Psychiatrie waren psychiatrische Versorgungsstrukturen ein wesentlicher Untersuchungsgegenstand. Im Grunde blieb es in dem Projekt bei einer formalen Zusammenführung z.T. ganz unterschiedlicher klinischer und vor allem psychosozialer Forschungsansätze. Als Ergebnis sehe ich eine Annäherung, Bündelung und gegenseitiges Verständnis psychotherapeutischer, klinisch-psychiatrischer und gemeindepsychiatrischer Arbeitsgruppen, die sich in der insgesamt stark biologisch orientierten Psychiatrie und Medizin und bei der Integration von Psychotherapie in die Psychiatrie positiv auswirkte.

Im Rahmen des Projekts wurden in den 70er und 80er Jahren in verschiedenen Kliniken in Leipzig, Berlin und Neuruppin moderne Versorgungsmodelle erprobt. Daraus ergaben sich die Grundlagen  für ein verbindliches Entwicklungsprogramm des Gesundheitsministeriums der DDR für die Psychiatrie in den Jahren  1980-90, das sich vor allem auf die Leipziger Erfahrungen mit der sektorisierten Versorgung stützte. Verantwortlich war eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des Chefs des Psychiatrischen Krankenhauses Berlin-Lichtenberg Prof. Dr. Hagemann. Als Planungsdokument des Gesundheitsministeriums hatte es theoretisch eine wesentlich höhere Verbindlichkeit als die Rodewischer Thesen. In diesem Programm waren die wichtigsten Punkte der Psychiatriereform, wie sie auch in der Psychiatrie-Enquête enthalten sind, festgeschrieben:

  • Verantwortung der Kommunen für ihre psychisch Kranken, auch für chronische Verlaufsformen,
  • Besondere Förderung der ambulanten Behandlung, Ausbau der Polikliniken,
  • Sektorisierung der stationären Kapzitäten,
  • Verbesserung der Situation der Psychiatrischen Kliniken,
  • Schaffung psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern.

Für DDR-Verhältnisse mit der Tendenz zur Schönfärbung der Realität war bemerkenswert, dass die Zustände in den Krankenhäusern  als "unzumutbar" bezeichnet wurden, ausserdem wurde kritisch ihre Gemeindeferne genannt.

Ähnlich wie in der BRD wurden hier Kompromisse gemacht. Die grossen Psychiatrischen Kliniken, die früheren Anstalten wurden trotz der kritischen Erwähnung für die Zukunft gleichberechtigt neben den Abteilungen genannt.

Die Umsetzung dieses Programms in die Praxis war, ähnlich wie bei den Rodewischer Thesen, enttäuschend, wohl gleichermassen auf Grund personeller und materieller Defizite wie konservativer Einstellungen im Fachgebiet. Die Mehrzahl der Psychiater in höheren Funktionen lehnte es ab, und es verschwand in der Regel in den Schreibtischfächern der Bezirksärzte für Psychiatrie.

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Sozialpsychiatrie und Psychiatrie.

Sozialpsychiatrie hatte im psychiatrischen Establishment der DDR immer eine Aussenseiterposition, sie war beschränkt auf Inseln, das traf auch für die Leipziger Psychiatrie zu. Die Fachgesellschaft für Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie mit ihren Leitungsgremien in der DDR und auf der Ebene der Bezirke (entspricht heute den Ländern) bestimmte wesentlich die Entwicklung des Fachgebiets. Den Vorsitz der Gesellschaft hatte nach der Pensionierung von Prof. Leonhardt ab 1971 bis zur Wende der Berliner Neurologe Prof. Schulze. So war in der DDR bis zuletzt, ähnlich wie in der BRD, ein konservatives, medizinisch- nosologisches Krankheitsverständnis und ein krankenhauszentriertes Versorgungssystem vorherrschend. Die Vertreter der grossen Krankenhäuser, der psychiatrischen Universitätskliniken und der Neurologie hatten fast überall die Mehrheit und die Machtpositionen. Die Psychiatrischen Abteilungen und die Vertreter der Polikliniken konnten kaum Einfluss nehmen. Wenige psychiatrische Krankenhäuser, z. B. Leipzig-Dösen, Neuruppin und Berlin-Lichtenberg entwickelten Ansätze in Richtung von Sozial- und Gemeindepsychiatrie, unter den psychiatrischen Abteilungen waren es Chemnitz und Plauen, Hochschulkliniken fehlten ganz. Nur die Psychiatrische Klinik der medizinischen Akademie Dresden, Prof. E. Lange, hatte eine der unsrigen nahestehende sozial orientierte anthropologische Konzeption, leider kam es nicht zu einer engeren Zusammenarbeit. Unsere Positionen in Bezug auf Krankheitskonzept, Rollenverständnis des Psychiaters und die Strukturen der psychiatrischen Versorgung fielen wahrscheinlich auch für DDR-Verhältnisse aus dem Rahmen. Vor allem die Kritik des medizinischen Krankheitsverständnisses mit ihren Folgen, der Relativierung ärztlicher Kompetenz und die Entmachtung der stationären Einrichtungen zugunsten von ambulanter und komplementärer Versorgung, von Gemeindepsychiatrie stiessen auf Widerstand.

Ich habe oft überlegt, ob es sinnvoll sei, eine Sektion Sozialpsychiatrie nach dem Vorbild der DGSP zu gründen. Das wäre wahrscheinlich möglich gewesen. Ich habe darauf verzichtet, aus Sorge,  damit die Isolation der Sozialpsychiatrie noch zu verstärken. Dabei war mir die Situation in der Bundesrepublik  mit der totalen Trennung von DGPPN als Vertretung der klassischen  Psychiatrie und DGSP als Vertretung der Sozialpsychiatrie ein warnendes Beispiel. Ergebnis ist bis heute eine tiefe Spaltung und Beziehungslosigkeit beider Richtungen statt der unerlässlischen Integration, ein Nebeneinander sozialer und medizinisch-biologischer Psychiatrie, eine Situation die zu Lasten der Patienten geht. Sozialpsychiatrie bleibt beschränkt auf  Inseln.

Auf breiten Widerstand stiess die von uns angestrebte Integration einer  personzentrierten anthropologischen Perspektive und einer entsprechenden Psychotherapie, sowohl von seiten der Psychiater als auch der Psychotherapeuten. Der Mythos von der mangelnden Eignung psychotischer, besonders schizophrener Störungen für persönlichkeitsorientierte Psychotherapie ist, trotz zahlloser Gegenbeweise, bis heute lebendig. In der Psychiatrie fehlte deshalb psychotherapeutische Kompetenz, wenn man von psychotherapeutischen Abteilungen absieht, die nur ausgewählte Formen neurotischer Störungen behandelten und von der Psychiatrie abgeschottet waren. Vor allem Psychiater wehrten sich gegen die Integration der Psychotherapie, wie mir scheint aus Sorge, für einen wesentlichen Bereich Inkompetenz anzuerkennen und Macht und Kompetenz an Vertreter einer anderen Disziplin abgeben zu müssen.  Später, in den 80er Jahren, wurden auch in der Psychiatrie verhaltenstherapeutische Programme entwickelt, Psychoedukation und Ähnliches, die ohne Zweifel nützlich sind. Sie bewegten sich aber, und das hat sich bis heute kaum geändert,  im Rahmen des medizinischen Modells. Es bleibt bei der Verobjektivierung des Patienten, der Definitionsmacht des Therapeuten und der Expertenkultur der Psychiatrie. Hauptanliegen scheint mir zu sein, den Betroffenen über das medizinische Krankheitskonzept, über Psychosen als Stoffwechselstörungen des Gehirns und die Notwendigkeit somatischer, vor allem psychopharmakologischer Therapie zu belehren und Möglichkeiten der Früherkennung zu fördern. Gefordert wird die strikte Compliance der Betroffenen, d.h., ihre Unterordnung unter die ärztliche Autorität und die Anerkennung des medizinischen Krankheitskonzepts der Psychosen. Diese Deutung ist von dem subjektiven Krankheitskonzept, den Erfahrungen der Betroffenen weit entfernt. In diesem krassen Widerspruch zwischen psychiatrischem Krankheitsverständnis und dem Erleben der Patienten, im mangelnden Krankheitsverständnis der Psychiatrie liegt die wesentliche Ursache für die unbefriedigende Compliance und die Unzufriedenheit mit der Psychiatrie, die sich am deutlichsten in den antipsychiatrischen Tendenzen zeigt, im Widerstand gegen diagnostische Etikettierungen und einseitige Behandlung mit Psychopharmaka. Solange dies Problem fehlinterpretiert wird als mangelnde Krankheitseinsicht des Patienten, wird sich hier nichts ändern.

Auch in der traditionellen DDR-Psychiatrie gab es Reformbestrebungen, die an die Rodewischer Thesen anknüpften, das erste sozialpsychiatrische Reformkonzept in Deutschland, lange vor der Psychiatrie-Enquête. Wesentliche Inhalte waren:

Überwindung der Verwahrpsychiatrie der Anstalten durch ein aktives therapeutisches Regime, der Verbindung klinisch-medikamentöser und sozialorientierter Therapie mit dem Ziel der Rehabilitation, der Rückführung ins freie, verantwortliche Leben unabhängig von diagnostischen und prognostischen Einordnungen.

Herstellung optimaler materieller und personeller Bedingungen in den Psychiatrischen Krankenhäusern.

Ersatz des Sicherungsprinzip durch das Fürsorgeprinzip.

Umgestaltung der Krankenhäuser zu offenen Einrichtungen mit weitestgehender Vermeidung von Zwangsmassnahmen.

Entwicklung eines umfassenden Systems der nachgehenden Aussenfürsorge mit Tages- und Nachtkliniken, geschützten Werkstätten, Wohnheimen, ambulanten Behandlungsmöglichkeiten u. a. in der Regie der Krankenhäuser.

Gefordert wurde auch der Abbau aller Formen der Diffamierung und Stigmatisierung psychisch Kranker, ihre Gleichstellung mit körperlich Kranken.

Diese Reformbestrebungen wurden getragen von den Psychiatrischen Krankenhäusern. Regelmässig fanden Folgeveranstaltungen zur Rodewischer Tagung in wechselnden Ländern des sozialistischen Lagers statt. Vor allem die Moskauer Psychiater vertraten ein rigides medizinisches Krankheitsverständnis, das eine Subjektorientierung ebenso wie die Integration der Psychotherapie und eine sozial- und gemeindepsychiatrische Orientierung behinderte.

Eine wesentliche Ergänzung der Rodewischer Thesen waren die "Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft" (K. Müller. S. Schirmer, H. Späte), die vom Psychiatrischen Krankenhaus Brandenburg-Görden ausgingen. Sie gründen sich auf die Kritik von E. Goffman an den custodialen, hierarchischen Strukturen psychiatrischer Anstalten als totale Institutionen, den Ursachen psychischer Schädigungen in Form des Anstaltssynroms und auf M. Jones' Arbeiten zur therapeutischen Gemeinschaft.  Gefordert wird die Umwandlung der menschlichen Beziehungen im Krankenhaus von dem hierarchisch gegliedertem System der Anordnung und Unterordnung zu einer demokratischen Leitung mit einem weiten Spielraum der Mitsprache aller Mitarbeiter und Patienten. Dem Patienten wird eine neue Rolle zugewiesen, als möglichst gleichberechtigter Partner im therapeutischen Prozess, der sein Leben eigenverantwortlich in allen Bereichen bestimmt. Möglichkeiten sind Patientenrat, Patientensprecher, Patientenversammlung, Gruppenvisite. Als wesentliches Ergebnis der Umgestaltung wird der Abbau von Vorurteilen erstrebt.

Die Rodewischer Thesen wurden sehr unterschiedlich aufgenommen.

Die Universitätskliniken, von Dresden abgesehen, nahmen sie  kaum zur Kenntnis, seitens der Psychiatrischen Krankenhäuser war die Reaktion geteilt. In verschiedenen Kliniken leiteten sie einen Veränderungsprozess ein, der von örtlichen Bedingungen, verfügbaren finanziellen und personellen Ressourcen, vor allem aber von persönlichem Engagement, Durchsetzungsfähigkeit und fachlicher Orientierung der Verantwortlichen abhing.

Ähnlich erging es den Brandenburger Thesen.

. Aus heutiger Sicht problematisch waren bei beiden Reformkonzepten zwei Aspekte:

-          das medizinische Krankheitsverständnis mit seinen Konsequenzen für das Menschenbild, für die Rolle des Patienten als  passives Objekt psychiatrischer Therapie, für seine soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung und das Fürsorgeparadigma wurden  nicht in Frage gestellt.

-          Das Psychiatrische Krankenhaus mit seinen custodialen und ausgrenzenden Strukturen wurde in seiner Funktion als Zentrum und Leiteinrichtung bestätigt. Ziel war die Verbesserung des bestehenden Systems, nicht seine Überwindung.

Führend bei diesen Reformbestrebungen waren Vertreter der grossen Krankenhäuser (niemand sägt gern an dem Ast, auf dem er sitzt). Die Probleme des Anstaltssyndroms, der Hospitalisationschäden und die Zusammenhänge zwischen psychiatrischer Theorie und Praxis und der Euthanasie, die Janusköpfigkeit der Psychiatrie, blieben randständig. Die Aussenfürsorge, der Keim der Gemeindepsychiatrie, wurde als verlängerter Arm der Psychiatrischen Krankenhäuser gesehen, der "entweder seine Anleitung vom regional zuständigen Fachkrankenhaus erhält und mit diesem eng verbunden arbeitet oder unmittelbar zum Kader des  Fachkrankenhauses gehört", der  damit auch die stationäre Perspektive übernimmt und die wesentlichen Aspekte und Probleme, die Handlungslogik der Gemeindepsychiatrie ausblendet.

Das Gutachten zur Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR konstatierte Bedingungen wie in der BRD in den 70er Jahren vor der Psychiatrie-Enquête, d. h. elende und menschenunwürdige Zustände. Diese Aussage ist z.T. berechtigt. Es gab aber extreme Unterschiede, auf der einen Seite  gut ausgestattete progressive Kliniken mit differenzierten therapeutischen Programmen, Leipzig-Dösen, Berlin-Lichtenberg oder Neuruppin, auf der anderen Seite Einrichtungen wie Waldheim. Dort herrschten Zustände der Verwahrlosung, von Willkür und Machtmissbrauch seitens des Pflegepersonals mit Verletzungen von Menschenrechten und gesetzlichen Bestimmungen. Diese Missstände wie in Waldheim konnten sich entwickeln, weil es keine ausreichende Kontrolle, kein Beschwerdemanagement und kaum eine wirklich kritische Diskussion im Fachgebiet, geschweige denn in der Öffentlichkeit, gab. Der ärztliche Direktor hatte nahezu  absolute Macht.

Der bauliche Zustand, die Unterbringungsbedingungen, das Saalsystem, die sanitäre Ausstattung, die Infrastruktur der Psychiatrischen Krankenhäuser waren tatsächlich in der Mehrzahl der Einrichtungen katastrophal. Diese qualitativen Defizite waren aber weniger systembedingt, sondern historisch begründet. Die DDR war, im Unterschied zur BRD, ein armes Land. Die Unterschiede in der Unterbringungsqualität in psychiatrischen Krankenhäusern zwischen Ost und West waren nicht grösser als die Unterschiede in der Wohnqualität der Bevölkerung Ost und West, sie hatten verschiedene Ursachen. Wesentlich waren einmal personelle und finanzielle Mangelsituationen. Ausserdem gab es eine Zweitrangigkeit der Psychiatrischen Regelversorgung gegenüber spezialisierten Stationen, die sogar oft von den Fachvertretern ausging. Verbreitet waren negative Wertungen des psychisch Kranken und der Psychiatrie und damit Benachteiligungen gegenüber anderen Fächern im System der Medizin, vor allem den grossen klinischen Fachgebieten an den Universitäten und  den regionalen  Krankenhäusern.  Das ist aber nicht DDR-spezifisch, sondern hat eine lange Vorgeschichte in Deutschland.

Wichtiger als der Vergleich der äusseren Bedingungen ist der Vergleich der therapeutischen Situation und des sozialen Milieus. Hier erscheint mir die pauschale Ausdehnung des negativen Urteils des Gutachtens nicht berechtigt. Damit wird  der vielfach aufopferungsvolle  Einsatz  des Pflegepersonals in den Psychiatrischen Kliniken ignoriert. Sicher sind die Kritiken an autoritär-hierarchischen Strukturen mit inhumanen, ausgrenzenden Umgangsformen, Verletzungen der Menschenwürde, Einschränkungen von Freiheit und Selbstbestimmung, die unverhältnismässige Anwendung von Zwang und Gewalt bei Einweisung und Behandlung, Missachtung der Bedürfnisse  der Patienten u. ä. berechtigt. Ebenso war kritikwürdig die einseitig naturwissenschaftlich, somatisch-psychopharmakologisch orientierte Behandlungsstrategie. Auch das hatte wenig mit dem System der DDR zu tun, sondern mit der Psychiatrie in Deutschland und ihrer Geschichte. Wenn man die Kritiken  aus der Psychiatrieerfahrenen-Szene  im Westen ernst nimmt, sind die Unterschiede in diesen Bereichen zwischen West und Ost gering. Auch  im Westen gab und gibt es noch bis heute vorwiegend geschlossene Einrichtungen mit Geschlechtertrennung, custodialen, autoritär hierarchischen Strukturen, Akutaufnahmestationen, einseitig naturwissenschaftlicher Orientierung mit weitgehender Beschränkung auf Psychopharmakotherapie. Hinter der glänzenden, schönen Oberfläche bestanden auch in vielen westdeutschen Krankenhäusern  die alten repressiven  Bedingungen weiter. Bildhaft ausgedrückt könnte man sagen, die Einrichtungen für psychisch Kranke im Westen waren nicht verwahrlost mit verrosteten Gittern wie in der DDR, sondern luxuriös, mit vergoldeten Gittern, Gefängnisse waren es hüben wie drüben. Eine Besuchsaktion der deutsch- italienischen Psychiatriegesellschaft zur Wendezeit in  psychiatrischen  Krankenhäusern im Berliner Raum, an der ich auch teilgenommen habe, kam zu einem ähnlichen Ergebnis: dass die Unterbringungsbedingungen, die materielle Ausstattung der Stationen, die Infrastruktur im Westen wesentlich besser waren als in der DDR. Demgegenüber erschienen in den Ost-Krankenhäusern die hierarchischen Strukturen und die soziale Distanz zum psychisch Kranken geringer, der Umgang wärmer, menschlicher als in den westdeutschen Krankenhäusern. Dieser Befund scheint mir verallgemeinerbar, wenn man von extremen Ausnahmen wie Waldheim absieht, die  im Westen auf Grund der besseren öffentlichen Kontrolle wohl nicht möglich sind.

Vorteile gegenüber der BRD hatte in der DDR generell, wie schon erwähnt, die berufliche Rehabilitation, die damit verbundene soziale Partizipation und die ambulante Versorgung aus einer Hand durch die multiprofessionellen Kollektive der Polikliniken im Rahmen der einheitlichen Versicherung. Vor allem die guten Möglichkeiten der beruflichen und sozialen Rehabilitation waren systembedingt. In der Regel bestand auch eine enge ambulant-stationäre Zusammenarbeit mit Koordination und Kooperation der verschiedenen therapeutisch-rehabilitativen Angebote. Die Zersplitterung durch die Vielzahl der verschiedenen Träger und unabhängigen  medizinischen und sozialen Institutionen und das Gegeneinander durch die Dominanz ökonomischer, marktwirtschaftlicher Aspekte konnte vermieden werden. Die Vielfalt der komplementären Hilfen war geringer, was aber durch die Möglichkeiten der Integration der Betroffenen in die sozialen Angebote der Kommune auf Grund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen ausgeglichen wurde.

Die Reformen im Rahmen des erwähnten Forschungsprojekts und der Symposien zur Rehabilitation liefen lange Zeit nebeneinander her. Erst Anfang der 80er Jahre fand eine Folgeveranstaltung des Rodewischer Symposiums der sozialistischen Länder in Leipzig statt, die gemeinsam von den Vertretern der psychiatrischen Krankenhäuser, dem Forschungsprojekt und der Leipziger Gruppe, von Prof. Thom und mir gestaltet wurde. Wesentliche Ergebnisse dieser Ansätze zu einer Verbindung der beiden Reformprozesse kamen allerdings in der noch verbleibenden kurzen Lebenszeit der DDR nicht zustande.

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Sozialpsychiatrie im gesellschaftlichen System der DDR.

Im folgenden möchte ich etwas zur Integration des Leipziger Reformprojekts in das gesellschaftliche System und die Gesundheitspolitik der DDR sagen. Schon  in der Auseinandersetzung mit dem Pawlowismus und der konservativen Psychiatrie und in den Bemühungen um eine Neuorientierung auf eine psycho-sozial orientierte Theorie und Praxis wurden wir von der Partei und von staatlicher Seite unterstützt. Meine Auffassungen  fügten sich ein in die generelle Förderung der Sozialmedizin in der DDR an den medizinischen Fakultäten und an der Akademie für ärztliche Fortbildung. Die Stellung der Sozialpsychiatrie in der Medizin der DDR war allerdings zwiespältig. In der vorwiegend naturwissenschaftlich geprägten  Medizin und in der biologisch orientierten Psychiatrie fand sie weitgehende Ablehnung. Auch von seiten staatlicher und politischer Instanzen gab es eine ideologisch begründete Tendenz der Ausblendung und Tabuisierung der psychosozialen Dimension wegen der damit verbundenen Orientierung auf pathogene Faktoren im gesellschaftlichen System des Sozialismus, die es für fundamentalistische Parteifunktionäre nicht geben durfte. Medizinische Psychiatrie war  unproblematischer, weil die Ausblendung der sozialen Dimension die Verschleierung und Entschärfung sozialer Spannungen und Konflikte ermöglichte. Das betraf in der Psychiatrie vor allem die Probleme von Suizidalität und Suchterkrankungen. Dadurch wurden auch wissenschaftliche Untersuchungen und Veröffentlichungen zu diesen Fragen in der Fachpresse und vor allem in den Massenmedien behindert.

Für die Akzeptanz unserer theoretischen und praktischen sozialpsychiatrischen Orientierung durch staatliche und Parteiinstanzen spielte eine Rolle, dass wir uns in unseren Auffassungen  auf die herrschende Ideologie, die Philosophie des Marxismus stützten, ein Faktum, dass wir auch nutzten. Ich frage mich heute, ob hier nicht nur fachliche Aspekte, sondern auch eine ideologische Vereinnahmung, Loyalität gegenüber der Partei, eine Rolle spielten. Die Verbindung von dialektischem und historischem Materialismus erschien uns, wie schon  begründet, als geeignete philosophische Grundlage für die Theorie der Psychiatrie, die sowohl die biologische als auch die psychosoziale Dimension psychischer Erkrankungen und ihre Wechselbeziehungen erfasst. Psychologische, auch psychopathologische Phänomene werden, wie das Sozialpsychiatrie und Psychiatrie-Erfahrene fordern, als Reflex der gesellschaftlichen Wirklichkeit, als Erscheinungsformen menschlichen Wesens verstanden.

Die Verteufelung und Delegitimierung des Marxismus als wissenschaftliches Konzept, wie sie gegenwärtig, allerdings mehr im Osten als im Westen, praktiziert wird, ist zwar auf Grund seiner Vulgarisierung und seines Missbrauchs in der DDR verständlich, aber unsinnig. Sie gründet sich auf diese Entstellungen des Marxismus, wie sie in manchen Bereichen der offiziellen DDR- Philosophie betrieben wurde und ignoriert echtes marxistisches Denken, das es fast überall in der Welt, auch in der DDR-Philosophie, nicht zuletzt in Leipzig gab. Wichtig ist, dass nicht einseitig eine bestimmende Rolle des Seins, gesellschaftlicher Strukturen, der Produktivkräfte postuliert wird, sondern die Dialektik von Sein und Bewusstsein, die Subjekivität und dessen aktive Rolle ernst genommen wird. In der offiziellen Sichtweise gab es hier Defizite.

Uns war  bewusst, dass zwischen dem, was wir unter Marxismus verstanden und seiner stalinistischen Entstellung eine tiefe Kluft bestand, die Kluft zwischen kritischer Wissenschaft und Religionsersatz. Marxismus war für uns und für  die Mehrzahl der Philosophen nicht ein geschlossenes System von Wahrheiten, von Glaubenssätzen, sondern ein pluralistisches Konzept, offen für Erkenntnisse und Theorien, nicht nur der Naturwissenschaften, sondern auch von Phänomenologie, Existentialismus, von Psychoanalyse. Kritisch aus heutiger Sicht ist zu bewerten, dass wir diesen Widerspruch kaum artikulierten und diskutierten. Die später in den Vordergrund tretenden Bemühungen um strukturelle Veränderungen der psychiatrischen Versorgung in Richtung Gemeindepsychiatrie und Humanisierung der psychiatrischen Praxis hatten, nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch in der Gesellschaft auf allen Ebenen, von der Gemeinde bis zum Ministerium mit Widerständen, mit abwertenden Urteilen über Psychiatrie und psychisch Kranke zu kämpfen, die aber auch weniger systemspezifisch, sondern historisch begründet  waren. Wir fanden  in der Regel Unterstützung der staatlichen und politischen Instanzen für unsere Projekte. Wesentlich dabei ist, dass das Prinzip der Gemeindepsychiatrie, ambulant vor stationär, ein allgemein akzeptiertes Prinzip des sozialistischen Gesundheitswesens war. Im diktatorischen System der DDR hatten wir bei der Realisierung unserer Ideen zur Reform der Psychiatrie weitgehende Freiheit. Das wird mir um so deutlicher, wenn ich es heute mit den Beschränkungen und Zwängen durch ökonomische, versicherungs- und standesrechtliche Bedingungen in der freiheitlichen BRD vergleiche. Die Umsetzung der Reform in den unteren Ebenen, in Kreisen und Bezirken  hing dann aber, wie die extremen Qualitätsunterschiede in den Regionen zeigen, von vielen Faktoren ab, von örtlichen Bedingungen, Einstellung und Engagment der Psychiater, auch von der Partei- und Staatsbürokratie. Die Widerstände gegen sozialpsychiatrische Theorie und gemeindepsychiatrische Praxis kamen nach meinen Erfahrungen vor allem aus dem Fachgebiet selbst, von Vertretern einer somatisch-medizinisch orientierten Psychiatrie in den stationären Einrichtungen des Gesundheits- und Hochschulwesens. In der BRD war das ähnlich und daran hat sich nach meinem Eindruck bis heute  nicht viel geändert.

Die Entwicklung der Polikliniken und gemeindepsychiatrischer und rehabilitativer Strukturen in der Kommune wurde in der DDR vom System und von den Vertretern der Sozialmedizin und Rehabilitation in den Regionen gefördert. Für die staatliche Förderung war  die Berufung auf internationale Trends der Psychiatrieentwicklung in den sozialistischen Ländern, aber auch im westlichen Ausland, besonders in Grossbritannien, den USA, der BRD nützlich. Die DDR kämpfte immer um internationale Anerkennung. Von den staatlichen und politischen Instanzen wurde eine optimale, am gesellschaftlichen Nutzen und am internationalen Trend orientierte psychiatrische Versorgung gefordert. Wie die auszusehen hatte, blieb den Fachleuten überlassen. Das Hauptproblem war deren Uneinigkeit, die Polarisierung medizinischer und sozialer Psychiatrie. Von materiellen Begrenzungen abgesehen, gab es kaum relevante Einmischungen staatlicher oder politischer Instanzen. Die Vorstellung, dass in der DDR alles von oben vorgeschrieben und geregelt war, kann ich für meinen Erfahrungsbereich, wenn ich von der politischen Meinungsbildung absehe, nicht bestätigen. Auch in meiner Tätigkeit als Arzt und Hochschullehrer, bei der inhaltlichen Gestaltung der Vorlesungen und Seminare habe ich mich frei gefühlt, gab es keine Reglementierung.

Die Entwicklung der Psychiatrie wurde durch eine  Reihe von Problemen behindert.

In der Bevölkerung und bei Vertretern des Systems waren die bekannten, historisch begründeten Stigmatisierungen und Tendenzen der Ausgrenzung psychisch Kranker noch verbreitet. Auf Grund der geringeren Hierarchisierung in der Gesellschaft wirkten sie aber weniger ausgrenzend. Ich habe kaum erlebt, dass ein Bürger infolge psychischer Erkrankung Arbeitsplatz oder Wohnung verlor. In der Regel konnten wir das verhindern.

In den 60er Jahren, später rückläufig, bestanden simplifizierende Auffassungen, dass psychische Erkrankungen nur ein Relikt der  kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Widersprüche seien und mit der Herausbildung der sozialistischen Ordnung verschwinden würden. Wir meinten damals auch, in einer heute euphemistisch erscheinenden Sicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit, dass ein Teil der Ursachen sozialer und  menschlicher Widersprüche, die in den gesellschaftlichen Bedingungen des Kapitalismus lagen, in der neuen Gesellschaft überwunden werden können: die forcierte Individualisierung, Vereinzelung und Verfremdung des Menschen, die Dominanz konkurrierender Lebensformen, Leistungs- und Konsumorientierung, soziale Isolierung,  Arbeitslosigkeit, Armut, Verelendung etc. Ich frage mich,  ob diese Überlegungen nicht doch eine gewisse Berechtigung hatten. Dafür sprechen die weitgehenden Möglichkeiten sozialer Integration und Partizipation psychisch Kranker und Behinderter in der DDR. Uns war natürlich bewusst, dass die meisten relevanten individuellen Konflikte und Widersprüche systemübergreifend bestanden und dass neue spezifische Widersprüche des realen Sozialismus sich herausbildeten, vor allem die Reglementierung, Bevormundung und Kontrolle des Lebens in vielen Bereichen, Mangelerscheinungen in der Versorgung u. a., die wir unterschätzt haben.

Das Hauptproblem war die Verleugnung sozialer Widersprüche, Defizite und Mangelerscheinungen, die euphemistische Sicht des realen Sozialismus, die Verwechslung von Idealbild und Wirklichkeit. Besonders akzentuiert waren solche Vereinfachungen, bezogen auf Suchterkrankungen, besonders Alkoholismus und  Suizidalität, Störungen, deren Zusammenhänge mit sozialen Widersprüchen offenkundig sind. Sucht und Suizidalität wurden aber auch Gegenstand von Forschungsarbeiten, z.B. in Schwerin und Dresden, vielleicht nicht im wünschenswerten Umfang. Bei der Versorgungsplanung in den Regionen wurden sie, soweit ich das überblicke, entsprechend berücksichtigt. In Leipzig gab es eine in die sektorisierte Versorgungsstruktur integrierte spezialisierte Suchtklinik  am Psychiatrischen Krankenhaus. Die stationären und ambulanten Institutionen arbeiteten eng mit den Selbsthilfegruppen der Alkoholkranken, vor allem den Anonymen Alkoholikern zusammen. Die Versorgung suizidgefährdeter Menschen gehörte zu den Aufgaben der Polikliniken und war in die Regelversorgung integriert, m. E. eine sinnvolle Lösung auch im Vergleich mit heute bevorzugten spezialisierten, störungsspezifischen Betreuungsangeboten. Ein Telefon des Vertrauens wurde gegen erhebliche Widerstände der medizinischen Bürokratie von den Psychotherapeuten durchgesetzt. Motiv des Widerstands war die Befürchtung, damit soziale Widersprüche einzugestehen.

Die Geheimhaltung epidemiologischer Daten über Suizidalität, Drogenabhängigkeit und Alkoholismus erschwerten die Arbeit. Die Tabuisierung dieser gesundheitspolitisch relevanten Themen vor allem in den öffentlichen Medien, die weitgehende Blockierung einer öffentlichen Auseinandersetzung mit den Problemen psychischen Krankseins unter Einbeziehung von Angehörigen, Betroffenen und der Öffentlichkeit war kontraproduktiv, da ohne deren Mitarbeit eine wirksame Hilfe für diese Menschen nur begrenzt möglich ist.  Eigene Publikationen zu diesen Themen lassen aus heutiger Sicht eine deutliche Selbstzensur erkennen,  affirmative Tendenzen und Loyalitätsbekundungen. Es war eine lästige Pflichtübung, vor einer kritischen Wertung von negativen Erscheinungen des Lebens in der DDR ausführliche Bekenntnisse zum Sozialismus und seinen Vorzügen bringen zu müssen, weil Kritik immer als Infragestellung des Systems gewertet wurde. Ein weitgehendes Tabu bestand in der öffentlichen Diskussion und in den Medien  für die gravierenden Mängel der Unterbringungsbedingungen, vor allem in den psychiatrischen Krankenhäusern.  Die gesellschaftliche Tabuisierung negativer Aussagen über die DDR-Wirklichkeit der Psychiatrie und das vom System geförderte Bestreben der Psychiater nach positiver Selbstdarstellung verstärkten sich wechselseitig.

Wir haben (M. Uhle) im Rahmen einer grösseren wissenschaftlichen Studie die Bedingungen und therapeutischen Programme in psychiatrischen Einrichtungen im Raum Leipzig untersucht und  veröffentlicht. Dabei ergaben sich erhebliche Defizite der Infrastruktur, der Entwicklung moderner Versorgungsstrukturen,  in der Qualität der Unterbringung, der therapeutischen Standards, vor allem was aktivierende psycho- und soziotherapeutische Programme,  personelle Besetzung und Infrastruktur betrifft. Die traurige Wirklichkeit der Patienten wurde aber nicht in ihrer ganzen Problematik realistisch erfasst, es blieb bei einer professionellen Perspektive.

Die Behinderung der Selbsthilfebewegung  von psychisch Kranken und Angehörigen, die mit dem autoritären Anspruch des Gesundheitswesens schwer vereinbar war, ist ein weiteres Defizit der DDR-Psychiatrie.

Ein unabhängiges Beschwerdemanagement durch Patientenfürsprecher, Besuchskommissionen, bürgerrechtliche Initiativen, Medien u. Ä. fehlte nahezu vollständig. Beides, Psychiatrie-Erfahrenen- und Angehörigenbewegung und Beschwerdemanagement sind Entwicklungen, die auch in der BRD erst in den 90er Jahren an Bedeutung und Verbreitung gewannen. Wie die Psychiatrie-Enquête in der BRD, waren auch die Bemühungen um eine Veränderung der psychiatrischen Versorgung in der DDR von den Rodewischer und Brandenburger Thesen bis zu unserer Arbeit in Leipzig, dem Entwicklungsprogramm des Ministeriums, nur Reformen von oben.

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Gab es eine DDR- Psychiatrie?

Bei der heute vorherrschenden Sichtweise auf die DDR  und ihre Psychiatrie gehen für mich zwei Aspekte unter. Die Lebensverhältnisse und das Verhalten der Menschen wurden nicht, wie das heute oft angenommen wird, einlinig kausal vom gesellschaftlichen System und seinen Imperativen bestimmt. Die DDR war kein homogenes, von der Diktatur geprägtes System. Wie in  jeder modernen Gesellschaft kam es zur Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme, die relativ autonom waren. Sie werden von ihrer Geschichte, den für sie spezifischen Traditionen, Regeln und Gesetzen, von internationalen Trends und von den Menschen als Subjekten geprägt, mit vielfältigen Möglichkeiten relativ unabhängiger, freierer Lebensgestaltung. Zum anderen ist die Eigenlogik der Lebenswelt gegenüber dem System und seinen Zwängen zu berücksichtigen.  Nicht in allen sozialen Lebensbereichen herrschten die gleichen diktatorischen Strukturen mit politischer Reglementierung. In der Arbeitswelt hatten die Menschen auf Grund der Sicherheit des Arbeitsplatzes und gewerkschaftlicher Rechte in mancher Hinsicht mehr Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten als heute.

Das trifft für  die Psychiatrie im allgemeinen und das Leben in der Klinik zu. Auch in der Familie, der Freizeit und Kultur, der Urlaubsgestaltung gab es weitgehende Möglichkeiten und Freiräume autonomen Lebens. Sicher waren im Vergleich zu heute Reiseangebote, Ausstattungsmöglichkeiten mit Pkw. u.ä., und damit Handlungsmöglichkeiten ziemlich begrenzt. Auf der anderen Seite gab es kaum gesellschaftliche Zwänge und Fremdbestimmtheit im Hinblick auf Konsum, Mode, Ausstattung und Lebensführung entsprechend der sozialen Position, wie sie heute bestimmend sind. In der DDR war der Spielraum gegenüber dem System und seinen Kolonisierungsbestrebungen  sehr  unterschiedlich. In der Psychiatrie hatten wir  im Vergleich  zur Volksbildung, Psychologie, Philosophie und Anderem eine gewisse Narrenfreiheit.

Ich denke, dass es bei uns in der Klink demokratischer zuging als heute in vielen Bereichen unter den Zwängen der Ökonomie, befristeter Arbeitsverträge und drohendem Verlust des Arbeitsplatzes. Die Rangordnungsdifferenzen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen und zwischen Professionellen und Patienten waren wesentlich geringer als heute, was die Bemühungen um demokratische Umgangsformen auf der mikrosozialen Ebene förderte. Was die fachliche Arbeit angeht, gab es keine ideologischen Einschränkungen, hatten wir eine pluralistische Perspektive. Gefördert wurde das durch enge Beziehungen zu westdeutschen Kollegen, vor allem zu K. P. Kisker,  E. Wulff von der Psychiatrischen Universitätsklinik Hannover, K. Dörner (Gütersloh) u. v. a.  Wir reflektierten nicht nur marxistische, sondern auch andere philosophische Zusammenhänge. Als wir uns unter Bezugnahme auf die phänomenologische Psychiatrie um eine subjektorientierte Perspektive bemühten, nutzten wir einen ganzen Zyklus des sogenannten Parteilehrjahrs, das der ideologischen Bildung der Mitarbeiter dienen sollte, um mit philosophischer Unterstützung von Prof. Thom "Sein und Zeit" von Heidegger Kapitel für Kapitel zu studieren. Später, als wir die Gesprächstherapie von C. Rogers einführten, setzten wir uns mit M. Buber und seiner dialogischen Philosophie auseinander. Westliche Fachliteratur war frei verfügbar. Sicher gab es auch Einrichtungen, in denen westliche Literatur in einem "Giftschrank" verwahrt wurde und nicht für alle zugängig war. Das war  abhängig von der Entscheidung des Chefs. Oft war sie auch aus finanziellen Gründen nur beschränkt verfügbar. Unsere Orientierung auf Literatur, Forschungsergebnisse und Entwicklungen im Westen wurde vor allem in der Partei z.T. nicht gern gesehen und kritisch bewertet, erfuhr aber auch Unterstützung von den Vertretern des Gesundheitsministeriums. Bei der Förderung demokratischer Umgangsformen, die  besonders im Widerspruch zu einem diktatorischen System stehen,  konnten wir uns auf die ursprünglichen Ideale stützen,  die Synonymität von Sozialismus und Demokratie. Auf der Ebene des Systems waren sie offiziell akzeptiert, wenn auch weitgehend zu Leerformeln verkommen. Nach meiner Erfahrung bemühten sich in der DDR,  in der Medizin und Psychiatrie ebenso wie in anderen Bereichen, auch in der Partei, viele Menschen mit Erfolg um demokratische Lebensräume, in denen Selbstbestimmung, individuelle Entfaltung und Gemeinsinn möglich waren. Ich frage mich, ob der Kampf um humane Lebensformen in der Psychiatrie damals schwieriger war als heute der Kampf gegen die Fremdbestimmung durch die Profitlogik des Systems.  Der Begriff der "Nische", der für soziale Strukturen wie der unsrigen gelegentlich verwendet wird, erscheint mir nicht zutreffend, weil die von uns vertretene Theorie und Praxis zur Gesellschaft, zum System offen und legitimiert war. Die weitgehenden Parallelitäten der Psychiatriereform in der BRD, international und in der DDR, zeigen auch die relative Eigenständigkeit des Subsystems Psychiatrie, die Dominanz fachspezifischer Gestaltungsprinzipien. Die theoretischen Auffassungen und Formen praktischen  Handelns in der Psychiatrie von K. P. Kisker und E. Wulff, M. Bauer, M. Krisor, K. Dörner waren mit den  unseren weitgehend identisch, im Gegensatz zur Psychiatrie in Ostberlin an der Humboldt-Universität, der Charité, in der Mehrzahl der psychiatrischen Krankenhäuser, z.B. der des benachbarten psychiatrischen Krankenhauses Altscherbitz, von denen uns Lichtjahre trennten. Die Entwicklung der Psychiatrie in beiden Ländern verlief quer zur Entwicklung der politischen Systeme. Meines Erachtens gab es im Grunde keine DDR-Psychiatrie, sondern nur eine Variante der historisch gewachsenen deutschen Psychiatrie mit ihren Widersprüchen, vor allem dem Kampf der "Psychiker und Somatiker". Die Polarisierung von medizinischer und sozialer Psychiatrie, von klinischer und Gemeindepsychiatrie  West und Ost hatten trotz der verschiedenen sozialökonomischen Basis mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Wesentlicher durchgängiger Unterschied zwischen Ost und West war nur die ärmlichere Ausstattung, der materielle und personelle Mangel im Osten..

Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme Ost und West hatten als Rahmenbedingungen Einfluss auf die Psychiatrische Theorie und Praxis, der aber gebrochen wurde von den Bedingungen des Systems Psychiatrie, mit den Menschen, die in ihm tätig sind.

Der Kolonisierung des Subsystems Psychiatrie und der Lebenswelt durch das gesellschaftliche System der DDR waren Grenzen gesetzt, die von den Erfordernissen, dem Eigensinn des Fachgebiets bestimmt und von uns beeinflussbar waren. Ich möchte betonen, dass das nichts mit politischem Widerstand zu tun hat. Dahinter stand der Wunsch, im Rahmen des Systems einen menschlichen, demokratischen Sozialismus zu schaffen.

Dr. Klaus Weise, Jahrgang 1929, Prof. em., war Direktor der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik Leipzig

(Originalbeitrag für www.sozialpsychiatrie-in-sachsen.de, (c) K. Weise)

Literaturhinweise zu Psychiatrie und Sozialpsychiatrie in Sachsen und DDR

An dieser Stelle wollen wir Hinweise sammeln auf Veröffentlichungen

  • zur Psychiatriegeschichte in Sachsen und der DDR sowie
  • zu sozialpsychiatrisch bedeutsamen Erfahrungen, - auf Bücher, die jemandem von uns wichtig sind. Es wird also keinerlei Vollständigkeit angestrebt.

Wenn Sie andere LeserInnen unserer Website auf Bücher aufmerksam machen möchten, schicken Sie uns bitte eine E-Mail.

  • Helmut F. Späte, Klaus-Rüdiger Otto: Irre irren nicht, Verlag Ille & Riemer, (Leipzig - Weißenfels 2010)
  • Psychiatrie in der DDR. Erzählungen von Zeitzeugen (Hrsg. Thomas Müller/Beate Mitzscherlich) (Frankfurt/M. 22006)
  • Friedrich Rudolf Groß: Jenseits des Limes. 40 Jahre Psychiater in der DDR (Bonn 1998)
  • Ernst Klee: Irrsinn Ost - Irrsinn West. Psychiatrie in Deutschland  (Frankfurt/M. 1993)
  • Sonja Anders: Zwischen Himmel und Hölle. Aufzeichnungen einer Suchtkranken (Berlin/DDR 1990)
  • SYMPTOM Nr. 1-5 (Hrsg. von der Betroffeneninitiative 'Durchblick e.V.' Leipzig und der SGSP e.V. (Leipzig 1992-2000)
  • B. Schwarz/K. Weise/ A. Thom (Hrsg.): Sozialpsychiatrie in der sozialistischen Gesellschaft (Leipzig 1971)
  • Achim Thom/ Erich Wulff (Hrsg.): Psychiatrie im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West  (Bonn 1990)
  • Sibylle Muthesius: Flucht in die Wolken (Berlin/DDR 1981)
  • Hans Luger: KommRum. Der andere Alltag mit Verrückten  (Bonn 1989)
  • Michaela Amering/ Margit Schmolke: Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit  (Bonn 2007)
  • Peter Lehmann/ Peter Stastny (Hrsg.): Statt Psychiatrie 2  (Berlin 2007)
  • Jan Foudraine: Wer ist aus Holz? Neue Wege der Psychiatrie (München 1973)
  • Hans-Ulrich Strack: Rosa Nacht und schwarzes Licht. Leben mit Alkohol. Berichte  (Berlin/DDR 1989)
  • Reinhardt O. Hahn: Das letzte erste Glas. Ein Bericht  (Halle/Leipzig 1986)
  • Martin Goyk: Arztnovelle (Halle/Leipzig1978)
  • Agathe Israel/Kamilla Körner: Die Behandlung zwangskranker psychose-naher Jugendlicher (in: Psychose und Grenze, hrsg. Stephan Becker) (Tübingen  1991)
  • Gerda Jun: Kinder, die anders sind (Berlin/DDR 1984)
  • Elfriede Lohse-Wächtler: "...das oft aufsteigende Gefühl des Verlassenseins". Arbeiten der Malerin E. L.-W. in den Psychiatrien von Hamburg-Friedrichsberg 1929 und Arnsdorf 1932-1940  (Dresden 2000)
  • Elfriede Lohse-Wächtler 1899-1940 (Katalog der Retrospektive  2009) (Tübingen/Berlin 2008)
Die Brandenburger Thesen (1974)

Neun Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft

Psychiat. NeUrol. med. Psychol., Leipzig 26 (1974) Januar, 1, S. 50-54

These 1 These 2 These 3 These 4 These 5 These 6 These 7 These 8 These 9

These 1

Der Mensch entwickelt und bewährt sich in der Gemeinschaft

Der Mensch ist sowohl in der phylogenetischen Entwicklung als auch inseinem Entstehen als Einzelwesen als Resultat des einheitlichen Zusammenwirkens von orga­nischen, psychischen und sozialen Einflüssen zu betrachten. Eine Vielzahl von For­schungsergebnissen der letzten Jahrzehnte zeigt, daß auch soziale Störfaktoren zu erheblichen passageren oder bleibenden psychischen Veränderungen führen können (Untersuchungen an Verfolgungen des Naziregirnes: Untersuchungen an langjährig Inhaftierten; Untersuchungen zu Fragen der sozialen Isolation: Abgrenzung des so­genannten "Anstaltssyndroms").

In der Betreuung psychisch Kranker wurden diese Gesichtspunkte in der Vergan­genheit zu wenig berücksichtigt. Anstelle des Gemeinschaftsprinzips herrschte weit­gehend eine hierarchisch gegliederte Struktur in allen Bereichen vor, wobei die ge­meinsame Gestaltung des Lebens im Krankenhaus in den Hintergrund trat und sich durch das Prinzip der Anordnungen nicht entfalten konnte.

These 2

Insbesondere psychisch gestörte oder erkrankte Menschen reagieren auf un­günstige soziale Einflüsse mit zusätzlichen psychischen Störungen

Als wissenschaftlich gut erforschte, von den eigentlichen Krankheitsbildern abgrenzbare und durch das ungesunde soziale Klima in psychiatrischen Krankenhäusern hervorgerufene Störung bietet das "Anstaltssyndrom" (Freudenberg) Einblicke in die Wirksamkeit sozialer Faktoren auf die psychische Gesundheit. Nach oft jahre­langem Verbleib im psychiatrischen Krankenhaus führt der Verlust des Kontaktes zur Außenwelt zum völligen sozialen Bankrott der Patienten, das u. a. in dem para­dox wirkenden Verlangen gipfelt, das psychiatrische Krankenhaus nicht mehr verlassen zu wollen. Die Patienten werden unfähig, realistische Pläne für ihre Zukunft zu gestalten. Gleichzeitig treten psychische Störungen auf, die nicht mit der eigent­lichen Erkrankung zusammenhängen, sich auf diese aufpfropfen und oft noch nach­weisbar sind, wenn die Krankheit längst abgeklungen ist: affektive Störungen; her­abgesetzte Ausdrucksfähigkeit (v. a. auf der verbalen Ebene); fortschreitendes Ab­sinken der Arbeitsfähigkeit; Verschlimmern von eigentlichen Krankheitssyndromen (v. a. bei katatonen Psychosen).

These 3

Die aus der geschichtlichen Entwicklung ableitbare Struktur unserer psychia­trischen Krankenhäuser ist geeignet, zusätzliche Störungen hervorzurufen oder bestehende zu verstärken

Die geschichtliche Entwicklung und die Organisation der psychiatrischen Großkrankenhäuser, die als Anstalten zur Ausgliederung der psychisch Gestörten aus der bürgerlichen Gesellschaft konzipiert waren (K. Dörner), zeigen, daß der soziale Aspekt bisher in der Behandlung der psychisch Kranken wenig Berücksichtigung gefunden hat. Die psychiatrischen Krankenhäuser wurden von Goffman entsprechend ihrer Funktion und ihrer Folgen für die Insassen in einer Reihe mit Gefängnissen, Arbeits­lagern und Waisenhäusern gestellt und als "totale Institution" bezeichnet. Diese „to­talen Institutionen" sind dadurch charakterisiert, daß

  • die Insassen nur beschränkten Zugang zur allgemeinen Bevölkerungsgruppe haben,
  • die Insassen in der gleichen Organisation schlafen, arbeiten und ihre Freizeit verbringen,
  • alles unter einer einzigen Autorität geschieht,
  • eine grundsätzliche Spaltung zwischen Angestellten und Insassen besteht, die sich in scharf getrennten Haltungsstereotypien gegenüberstehen,
  • Angestellte alle Entscheidungen für die Patienten treffen die selbst an diesem Pro­zeß keinen Anteil haben.

Mit der kasernenmäßigen Unterbringung wurde den psychisch Kranken die Möglichkeit genommen, sich sozial zu bewähren und wieder in die Gemeinschaft einzu­gliedern.

Zu diesem Unvermögen tragen drei wesentliche Mangelerscheinungen im sozialen Milieu der psychiatrischen Krankenhäuser bei:

  • der Verlust des Kontaktes zur Außenwelt,
  • die erheblich eingeschränkte Möglichkeit des Patienten, an Entscheidungen über sein tägliches Leben teilzunehmen und
  • das zunehmende Verlernen normaler Arbeitsgewohnheiten (nach Freudenberg).

Damit ist das konventionell geleitete und in allen Ebenen hierarchisch strukturierte psychiatrische Großkrankenhaus mit seiner Organisationsform in unserer Zeit zu einem Hindernis bei dem Bestreben geworden, die Schranken zwischen psychisch Gestörten und der Umwelt abzubauen Der Institutionalismus ist eines der Haupthin­dernisse für eine umfassende Rehabilitation der psychisch Kranken und für die Wahrung der Würde des kranken Bürgers. Infolge dieses anachronistischen Charakters ist die Institution „psychiatrisches Krankenhaus" auch in unserem sozialistischen Staat oft noch ein Instrument, um die Gesellschaft von ihrer Verantwortung für ihre kran­ken Bürger zu entbinden.

These 4

Die "Therapeutische Gemeinschaft" zeigt einen gangbaren Weg zur Umwand­lung der psychiatrischen Krankenhäuser in echte therapeutische Institutionen

Für die Veränderung des sozialen Milieus der psychiatrischen Großkrankenhäuser, die die Eliminierung pathogener sozialer Einflüsse und unzeitgemäßer und zum Teil antihumaner organisatorischer Strukturen einschließt, bietet sich das Prinzip der „Therapeutischen Gemeinschaft" (Maxwell Jones) an. Dieses Prinzip beinhaltet im Kern die Umwandlung der menschlichen Beziehungen zwischen Patienten und therapeutischem Kollektiv von gegeneinander stehenden in miteinan­der wirkende Gruppen und den Übergang vom hemmenden, streng hierarchisch gegliederten System der Anordnung und Unterordnung zur demokratischen Leitung mit einem weiten Spielraum der Mitsprache aller Mitarbeiter und Patienten.

Die von Maxwell Jones geforderte "therapeutische Kultur" beinhaltet, daß jede, auch die alltäglichste Funktion auf ihren Sinn und ihre Wirkung auf die The­rapie zu überprüfen ist, alle Vorkommnisse müssen gemeinsam besprochen und ana­lysiert werden; alle Mitglieder der therapeutischen Gemeinschaft, insbesondere die Angestellten müssen von der Erkenntnis durchdrungen sein, daß die Gemeinschaft selbst und das Auftreten jedes einzelnen therapeutisch oder antitherapeutisch wirkt.

Jedem Mitarbeiter muß eindeutig sein neuer Ort in dieser Gemeinschaft zugewiesen werden; der Wandel der Aufgaben der Ärzte einschließlich der Krankenhausleitung, der Schwestern und Pfleger, der Verwaltungsangestellten und der Handwerker muß sichtbar gemacht werden; der neue Inhalt ihrer Tätigkeit muß klar umrissen sein. Von vornherein muß versucht werden, den Verlust der bisherigen Rolle der Mitar­beiter und der Patienten in sinnvoller Weise durch die neue Rolle zu kompensieren.

These 5

Die Behandlung und Wiedereingliederung der psychisch Kranken kann nur so gut sein, wie es die Gesellschaftsordnung ist, in der sie leben

Die bisherigen Gesellschaftsordnungen konnten im Geisteskranken nur den „alienus" (den Nichtzugehörigen, Nichtangepaßten, Abtrünnigen, Fremden, Nichtnützlichen) sehen. Der Gedanke, diese andersartigen Menschen als Ballast der Gesellschaft aus­zugliedern („unterzubringen"), dominierte in den vorsozialistischen Gesellschaftsord­nungen vor den kurativen Bemühungen. Diese Bestrebungen wurden während der faschistischen Herrschaft zum Exzeß, als Tausende psychisch Kranker als ,,lebens­unwert" ermordet wurden. Erst in der nichtantagonistisdien und klassenlosen Gesell­schaft kann sich eine wertneutrale und humanistische Einstellung zum Geisteskran­ken durchsetzen.

Therapeutische Gemeinschaft kann nicht eine abstrakte demokratische Provinz, sondern nur Abbild der umgebenden Gesellschaft sein. Daher ist eine wahre therapeutische Gemeinschaft mit umfassender Demokratie im psychiatrischen Kranken­haus nur im Sozialismus möglich. Um die Gesellschaftsbezogenheit dieser wichtigen und notwendigen sozialen Umstrukturierung der psychiatrischen Krankenhäuser er­kennbar zu machen, ist es notwendig, den randunscharfen, vieldeutigen Begriff "The­rapeutische Gemeinschaft" genau zu umgrenzen.

Dazu gehört:

  • Das Prinzip der "Therapeutischen Gemeinschaft" muß befreit werden von psychoanalytischem Beiwerk und theoretischen Begründungen, denen das Menschenbild der bürgerlichen Klassengesellschaft zugrunde liegt.
  • Der Begriff der "Therapeutischen Gemeinschaft" muß mit dem sozialistischen Men­schenbild und dem marxistischen Begriff der Persönlidikeit in Einklang gebracht werden.
  • Ebenso wie die Ziele, die mit der Anwendung des Prinzips der Therapeutischen Ge­meinschaft verbunden sind, müssen die Grenzen bestimmt und die Gefahren erkannt werden.

These 6

Das Prinzip der "Therapeutischen Gemeinschaft" ist kein Schema

Die dogmatische Anwendung dieses Prinzips könnte dazu führen, neue Schranken aufzurichten und eine Scheindemokratie aufkommen zu lassen, die ebenso schädlich ist, wie es die bisherigen autoritär strukturierten Einrichtungen waren. Geschichtliche Entwicklung, lokale Gegebenheiten und personelle Voraussetzungen zwingen dazu, alle Starrheit zu vermeiden und jeweils gangbare Wege zur Verwirklichung zu suchen. Es gilt, die praktischen Möglichkeiten darzustellen, mit denen das Mitbestimmungsrecht von Patienten und Mitarbeitern in optimalem Maße verwirklicht werden kann. Derartige Formen könnten sein: regelmäßige Personalversammlungen in den verschiedenen Ebenen, größte Eigenverantwortlichkeit in allen Leitungsbereichen, Patientenversammlungen (in Form von Gruppenvisiten u. ä.), Patienrat, Patientenparlament, gemeinsam aufgestellte Stationsordnungen und Krankenhausordnungen. Diese Maßnahme könnte dazu beitragen, das Krankenhausleben weitgehend zu de mokratisieren und den Institutionalisrnus abzubauen. Die therapeutische Gemeinschaft entsteht nicht im Selbstlauf, sondern ist ein langer Uinerziehungsprozeß, der eine aktive Mitarbeit erfordert. Die Wege, auf denen das Prinzip der therapeutischen Ge­meinschaft in jedem einzelnen psychiatrischen Großkrankenhaus verwirklicht werden soll, müssen eindeutig und detailliert festgelegt werden. Es bieten sich zwei Möglich­keiten an:

  • Nach entsprechender intensiverer Vorbereitung von Mitarbeitern (einschließlich Verwaltung, Funktionsabteilungen, Handwerker usw.) und Patienten könnte dieses Prinzip in differenzierterer Weise (in Abhängigkeit von der inneren Struktur und den unterschiedlichen Möglichkeiten der einzelnen Abteilungen des Krankenhauses) generell verwirklicht werden.
  • Nach intensiver Vorbereitung könnte das Prinzip zunächst in einer ausgewählten Abteilung angewandt werden, wobei durch die Wirkung dieses Vorbildes dann ein schrittweises übergreifen auf das gesamte Krankenhaus möglich wird.

These 7

Keine therapeutische Gemeinschaft ohne offene Tür

Viele Erfahrungen haben gelehrt, daß der Übergang vom System der widerspruchslosen Anordnung zur eigenverantwortlichen Mitbestimmung, verbunden mit optima­ler Selbstverwaltung und Selbstkontrolle die Möglichkeit schafft — bis auf wenige Ausnahmen —, sämtliche Stationen der psychiatrischen Krankenhäuser zu öffnen. Die Befürchtung, daß sich die Selbstmordquote unter den Patienten erhöhen und daß sich die Entweichungen vermehren könnten, kann als unbegründet gelten. Die „offene Tür" schafft erst ein echtes therapeutisches Klima im Krankenhaus, das uns gestat­tet, dem Patienten die stationäre Behandlung mit gutem Gewissen zuzumuten. Die notwendige quantitative und qualitative Verbesserung der ambulanten psychiatri­schen Versorgung mit einer engmaschigen Dispensairebetreuung und Früherfassung psychisch kranker Bürger wird die sogenannten "Zwangseinweisungen" auf ein Mi­nimum reduzieren helfen.

Die Therapie im psychiatrischen Krankenhaus darf nie­mals strafenden oder disziplinierenden Charakter haben, wenn, sie nicht entwertet werden soll. Wie die Anwendung aller Zwangsmittel (einschließlich der "Absonderung"), muß es heute als antitherapeutisch, wenn nicht antihuman gelten, einem Patienten wegen einer Unbotrnäßigkeit oder wegen eines Vergehens Bettruhe oder eine Injektion zu "verordnen".

Die Arbeitstherapie muß in den Wandel der Krankenhausatmosphäre einbezogen, werden, wobei sich der materielle Nutzeffekt dem therapeutischen Ziel unterzuordnen hat. In stufenweiser Steigerung muß sowohl in der Qualität als auch in der Quan­tität die Grenze der Leistungsfähigkeit der Patienten erreicht werden.

"Offene Tür" bedeutet auch, daß die Rehabilitation in einer Weise verbessert wer­den muß, daß die stationäre Behandlung nur solange ausgedehnt wird, wie sie un­bedingt erforderlich ist. Frühentlassungen mit qualifizierter Nachbetreuung sollten die Regel sein. Hierzu ist es dringend erforderlich, daß antiquierte Berufsbild der psychiatrischen „Fürsorgerin" unter diesen neuen Aspekten zu überdenken und den Erfordernissen entsprechend aufzuwerten. Im Interesse der Therapie und der Rehabilitation der psychisch kranken Menschen darf das psychiatrische Krankenhaus nicht weiter ein Asyl für dissoziale und arbeitsscheue Bürger sein.

These 8

Die therapeutische Gemeinschaft hilft, das Vorurteil gegenüber psychisch Kranken zu überwinden

Ein nach den Prinzipien der therapeutischen Gemeinschaft umgestaltetes psychiatrisches Krankenhaus wird dazu beitragen, tief verwurzelte Vorurteile, Irrmeinungen und Abneigungen gegenüber den psychisch Kranken und den psychiatrischen Institutionen abzubauen.

Naturgemäß muß mit der Veränderung der Einstellung zum psychisch Kranken im Krankenhaus selbst begonnen werden. Dazu sind Ausbildungsprogramme für Ärzte, Schwestern, Verwaltungspersonal, Handwerker usw. erforderlich. Gleichzeitig darf sich das Krankenhaus in seiner Aufklärung- und Überzeugungsarbeit aber nicht auf sich selbst beschränken, sondern muß in hohem Maße die Öffentlichkeit mit einbe­ziehen. Hierzu bieten sich vielfältige Möglichkeiten an: Vorträge (im Rahmen der "Urania") vor den verschiedensten Gruppen der Öffentlichkeit (Brigaden, Schulen, Verwaltungen usw.); vermehrte Nutzung der Tagespresse und der populärwissen­schaftlichen Zeitschriften; intensivere Aufklärung über Rundfunk, Film und Fern­sehen; "Tage der offenen Tür".

These 9

Unser Bekenntnis zur therapeutischen Gemeinschaft schließt das Bekenntnis zum organischen Substrat auch der "endogenen" Psychosen ein

Das Bestreben, mit dem Prinzip der therapeutischen Gemeinschaft optimale soziale Bedingungen im psychiatrischen Krankenhaus zu schaffen, ebnet den Weg zur optima­len Therapie der Erkrankungen und verhindert, daß sich nichtkrankheitsbedingte Symptome auf die Krankheitsbilder auflagern. Wir sind nicht der Auffassung, daß es sich bei den psychotischen Erkrankungen um "Soziosen" handelt und meinen, daß sich der Psychiater stets auf den naturwissenschaftlichen Boden unseres Faches besinnen muß und sich nicht zum "Soziater" umfunktionieren lassen darf. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Abgrenzung von spekulativen antinaturwissenschaftlichen und anarchistischen sozialpsychiatrischen Strömungen des westlichen Auslandes.

Verfasser
MR Dipl.-Jur. Dr. med. Siegfried Schirmer, MR Dr. med. Karl Müller, Dr. med. Helmut F. Späte, DDR-18 Brandenburg 12, Bezirksnervenklinik.

Die Rodewischer Thesen (1963)

Rodewischer Thesen zur Rehabilitation psychisch akut und chronisch Kranker

Internationales Symposion über psychiatrische Rehabilitation vom 23.-25.Mai 1963 in Rodewisch i. Vogtland (DDR)

Z. ges. Hyg. 11 (1965), H. 1 (S. 61-65)

Je klarer über die klinisch-medizinische Führung des Kranken hinaus seine soziale Wiedereingliederung als ärztliche Aufgabe erkannt und bejaht wird, desto konsequenter müssen klinisch-medikamentöse Therapie und sozial wirksame Heil- und Betreuungsmethoden integriert werden in einer komplexen rehabilitationsgezielten Therapie. Moderne medikamentöse Behandlungsverfahren und aktive Soziotherapie, beide unter optimalen Heilbedingungen, bilden eine untrennbare Einheit im Denken und Handeln der Ärzte und des Pflegepersonals. Bei den akut Kranken muß vom frühestmöglichen Zeitpunkt an in allen Behandlungsmaßnahmen über das "Antipsychotische" hinaus der Rehabilitationscharakter erkennbar sein (Rückführung ins tätige, freie und verantwortliche Leben). Bei den chronisch Kranken gilt es, diese unter psychohygienisch positiv wirksame heilfördernde Bedingungen zu stellen, sich nicht mit der Auffassung von der Irreparabilität sogenannter, zumindest fraglicher Defektzustände abzufinden, sondern weit stärker als bisher die klinischen Heilmaßnahmen anzuwenden. Das Schwergewicht aller Rehabilitationsmaßnahmen liegt bei den Kranken, die einen höhergradigen krankheitsbedingten biologischen, psychischen und sozialen Leistungsabfall aufzuweisen haben. Alle medizinisch-sozialen Rehabilitationsmaßnahmen institutionellen oder administrativen Charakters können erst dann als ausreichend angesehen werden, wenn es gelingt, die chronischen Verlaufsformen der Psychosen und die Ausbildung sogenannter Defektzustände — zumindest der graduellen Ausprägung nach — zu reduzieren und einen großen Prozentsatz von Menschen mit chronisch verlaufenden psychischen Erkrankungen beruflich und sozial wieder einzugliedern, ihnen zu einem Leben in sozial verantwortlicher wie freier Verfügbarkeit zu verhelfen.

Hierbei ist folgendes vordringlich:

These 1 These 2 These 3 These 4 These 5 These 6 These 7 These 8 These 9 These 10

These 1

Unabhängig von allen hypothetischen Vorstellungen über das Wesen und die Nosologie der Psychosen, ihrer chronischen Verlaufsformen, insbesondere auch der sogenannten Defektbildungen, ist in jedem Falle eine aktive therapeutische Einstellung zu fordern. Keine Diagnose einer Psychose rechtfertigt die sichere Annahme eines schicksalsmäßigen Verlaufes und mit ihr die fatalistische Einstellung zu ihren Behandlungsmöglichkeiten. Die umfassende Rehabilitationsbehandlung ("komplexe Therapie") reicht in undogmatisch kombinierter Anwendung von den neuroleptischen Psychopharmacis über vielfältigste Methoden der Arbeitstherapie bis zu den gruppenpsychotherapeutischen Verfahren; die Anwendung neuroleptischer Psychopharmaka soll der wissenschaftlichen Erkenntnis folgend kurmäßig (kurzzeitig begrenzt, hoch dosiert) und langfristig (niedrig dosiert sogenannte Dauereinstellungen) unter ständiger Kontrolle stationär wie ambulant erfolgen.

These 2

Optimale Therapie kommt nur unter optimalen Bedingungen optimal zur Wirkung. Die psychiatrischen Krankenhäuser und Kliniken müssen ihre allgemeinen Bedingungen, unter denen sie therapieren, kritisch überprüfen. Die besonderen aus der Anstaltstradition übernommenen Maßnahmen, die den psychisch Kranken "anders" als einen anderweitig Erkrankten im Krankenhaus behandeln, sind Zug um Zug zu beseitigen. Akut und chronisch Kranke können zum überwiegenden Teil auf völlig offene Krankenstationen geführt werden. Entscheidend für die Öffnung der Krankenstation ist ein durchdachtes rehabilitatives Heilregime, der fürsorgliche Geist des Personals, die damit geschaffene Heilatmosphäre und die aktive Einstellung zur komplexen Therapie. Aus vorwiegend geschlossenen Heil- und Pflegeanstalten haben sich vorwiegend offene psychiatrische Fachkrankenhäuser zu entwickeln. Das umfassende Sicherungsprinzip der Heil- und Pflegeanstalt muß einem umfassenden Fürsorgeprinzip des Fachkrankenhauses weichen.

These 3

Die Rehabilitation wird erleichtert durch Profilierung der Krankenstationen mit jeweils besonderer Betonung der therapeutischen Inhalte entsprechend der Zusammensetzung der Patienten. Insbesondere sind die klinischen Stationen für akut Erkrankte von denen für chronisch Kranke zu trennen, wobei die jeweils besondere Struktur des Krankenhauses und die örtlichen Bedingungen gewahrt bleiben sollen. Ganz besonders ist eine Differenzierung von Jugend- und Altersstationen erforderlich. Bei verstärkter ärztlicher Besetzung und mit erreichter Bettenauflockerung werden die psychiatrischen Fachkrankenhäuser in dem ihnen zukommenden Maße auf entsprechenden Fachstationen Neurosebehandlungen übernehmen.

These 4

Durch planvolle Reorganisation und Modernisierung müssen die psychiatrischen Krankenhäuser und Kliniken personell, materiell und institutionell in die Lage versetzt werden, allen Anforderungen der modernen komplexen psychiatrischen Therapie zu entsprechen. Die noch bestehenden Unterschiede in den Haushalts- und Stellenplänen gegenüber den allgemeinen Krankenhäusern sind unberechtigt und müssen beseitigt werden.

These 5

Bei erreichter Stabilität der ärztlichen Versorgung im Bereich der Psychiatrie wird im Sinne des Dispensairesystems die nachgehende Fürsorge als kontinuierliche Arbeit eines Kollektivs aus Psychiatern, Psychologen und Fürsorgerinnen zu ent-wickeln sein. Dieses Kollektiv soll engste Verbindung zu den Produktionsbetrieben unterhalten und Arbeitsplatzstudien ermöglicht bekommen. Damit ist ein umfassendes System der psychiatrischen Außenfürsorge mit besonderer Betonung der nachgehenden Fürsorge auf- und auszubauen. Es ist unerläßlich, daß jeder Kreis neben mindestens einem Psychiater mindestens eine hauptamtliche psychiatrische Fürsorgerin besitzt, die entweder ihre Anleitung vom regional zuständigen Fachkrankenhaus erhält und mit diesem eng verbunden arbeitet oder die sogar unmittelbar zum Kader des Fachkrankenhauses selbst gehören sollte.

These 6

Dringend erforderlich sind Übungslösungen zwischen kontinuierlichen arbeitstherapeutischen Einsätzen auf der einen Seite und der vollen Erwerbsarbeit andererseits, zwischen der ambulanten Krankenbetreuung und der stationären Krankenbetreuung bisheri¬ger Art. In dieser Hinsicht muß die Einrichtung von an die Fachkrankenhäuser angeschlossenen beschützenden Werkstätten, befür¬sorgten Patienten-Wohnheimen, psychiatrischen Tages- und Nachtkliniken gefordert werden.

These 7

Die gewaltige soziologisch-gesellschaftliche Bedeutung der psychischen Krankheiten als Volkskrankheiten ist weit stärker als bisher herauszustellen, auf geeignete Weise zu popularisieren mit dem Ziel einer wirksamen Prophylaxe, der unbedingten Früherfassung und Frühbehandlung von psychisch Kranken. Mit allen geeigneten Mitteln der Volkserziehung ist der Intoleranz psychisch Kranken gegenüber zu begegnen.

These 8

Amtliche oder gesetzliche Zwangsmaßnahmen psychisch Kranken gegenüber sind auf das nur erforderliche Minimum zu beschränken. Die humane Grundhaltung des sozialistischen Lebensstils muß darin zum Ausdruck kommen, daß alles vermieden wird, was geeignet ist, psychisch Kranke in der Öffentlichkeit zu diffamieren und sie außerhalb der Gesellschaft zu stellen. In besonderer Weise sind bestehende Gesetze und Verordnungen daraufhin zu korrigieren. In Arbeit befindliche Gesetze und Verordnungen haben dies gebührend zu berücksichtigen.

These 9

Durch die Ministerien für Gesundheitswesen sollte ein intensiver Erfahrungsaustausch auf internationaler Basis über Fragen der psychiatrischen Rehabilitation organisiert und gefördert werden. Durch das Vergeben von Forschungsaufträgen an psychiatrische Einrichtungen, die sich besonders intensiv mit den Fragen der psychiatrischen Rehabilitation befassen, soll die wissen-schaftliche Bearbeitung dieses Bereiches vorangetrieben werden, wobei den Fragen der sogenannten psychotischen Defektzustände sowie den Entwicklungen der Krankheiten und dem Verhalten der Kranken außerhalb des Krankenhauses besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. Forschungsarbeiten an psychiatrischen Facheinrichtungen des Gesundheitswesens sollen in Absprache bzw. mit unterstützender Beteiligung der regional zuständigen Hochschulkliniken vorgenommen werden.

These 10

Im Bereich der Psychiatrie ist eine enge Koordinierung der praktischen sowie der wissenschaftlichen Tätigkeit der medizinischen Fachrichtungen des Hochschulwesens und denen des Gesundheitswesens erforderlich. Im Hochschulunterricht müßten die Möglichkeiten und die Bedingungen einer umfassenden medizinisch-sozialen Rehabilitation für akut und chronisch Kranke mehr als bisher dargestellt werden. Soweit die Hochschulkliniken aufgrund ihrer besonderen Struktur und ihrer betonten Aufgabenstellung keine umfassenden Möglichkeiten aller Bereiche der medizinisch-sozialen psychiatrischen Rehabilitation bei sich selbst entwickeln können, so sind die Studierenden mit den rehabilitativen Maßnahmen der psychiatrischen Fachkrankenhäuser, insbesondere mit den Maßnahmen der Sozio- und Arbeitstherapie im Rahmen des Kollegbetriebes auf geeignete und ausreichende Weise bekanntzumachen. Hochschulkliniken und psychiatrische Fachkrankenhäuser, soweit letztere dazu die Voraussetzungen erfüllen, sollen sichtbarer als bisher die Ausbildung der Studierenden und der Fachärzte gemeinsam tragen, sollen auch gemeinsam Forschungsaufträge erledigen. Jeder Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sollte vor Übernahme einer selbständigen Tätigkeit sowohl mindestens ein Jahr in einer Hochschulklinik als auch ein Jahr in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus im Rahmen seiner Fachausbildung tätig gewesen sein.

(Es folgen noch eher unerhebliche Empfehlungen zur Arbeitstherapie und Thesen zu "Problemen des Schwachsinns".)

mit freundlicher Unterstützung unserer Brandenburger Kollegen BraGSP

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